Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz
ihn geprallt war, immer noch weiterfahren. Er sah sein eigenes Blut zum zweiten Mal hochspritzen und wie Regen herunterfallen. Noch mehr Blut in einem See von Blut. Der vierte Schuss war nicht auf ihn gerichtet, war nicht für ihn gedacht. Er hörte den dumpfen Aufprall, fühlte den Bootssteg erzittern. Er konnte nichts sehen, weil er sich nicht aufrichten konnte.
Kurze Zeit verstrich. Er wartete. Worauf?
War jemand gekommen? Hier war wieder die Hoffnung im billigen, neuen Gewand. Gott, dachte er, was sind wir Menschen doch schwach! Wir klammern uns an irgendwelche alten Lügen, bloß um irgendwie weiterleben zu können. Wieso sagte derjenige, der gekommen war, denn nichts? Er fühlte, wie er vom Bootssteg leicht hochgehoben wurde, wahrscheinlich hatten sie ihn auf eine Tragbahre gelegt. Er konnte spüren, wie etwas - ein Laken? Eine Decke? - auf ihn herabgesenkt wurde.
Er hielt die Augen geschlossen, weil ihm das Blut von einer Schnittwunde an der Stirn hineintropfte. Er war froh, dass er auf der Tragbahre unter einer Decke lag, auch wenn die so dünn war, dass er sie kaum fühlen konnte. So dünn wie Luft war sie. Dann dachte er: nein, es waren doch zwei Leute nötig, um die Tragbahre zu transportieren. Weil sich seine Stirn nicht mehr nass vom Blut anfühlte, konnte er die Augen ja aufmachen. Seltsam, dass der Nachthimmel noch genauso aussah wie vorhin. Die Stille war unversöhnlich, abweisend. Er konnte nicht einmal das Wasser gegen die Poller schwappen hören. Er fragte sich, wie viel Blut er verloren hatte. Der Schmerz hatte sich etwas gelegt oder war zumindest weniger spürbar, so als ob er sich verflüssigt hätte.
Er war unbarmherzig müde, musste aber wach bleiben. Schließlich könnte es eine Gehirnerschütterung sein. Die Polizei brauchte aber lang. Wer sie wohl verständigt hatte?
Bestimmt Mickey. Mickey hätte ihn ja am Ende hier nicht einfach sterben lassen. Nein. Mickey war tot.
Er hörte eine Stimme.
Mr. Jury, Mr. Jury!
»Benny?« Wo war er? »Benny?«
Dann ein Klicken, Krallen klackten auf dem Bootssteg. Sparky?
Doch was so nah gewesen war, die Stimme, die klackenden Krallen, wich nun in unbestimmte Ferne zurück. Es war gar niemand in der Nähe; niemand war da gewesen.
Der Tod hält keine Überraschungen bereit. Merken Sie sich das gut, Superintendent.
Eine Sternschnuppe. Er dachte an Stratford-upon-Avon und den kleinen Park neben der Kirche, wo Shakespeare begraben war. Sie waren eine ganze Gruppe gewesen, Schulkinder, die in der Dunkelheit eines kleinen, säulenbestandenen Gebäudes geraucht hatten, ihre Worte in die Nacht geschleudert hatten wie die leuchtenden verkohlten Enden ihrer Zigaretten.
Mein Gott. Er wollte laut auflachen. Da verblutete er nun und dachte ans Rauchen. Allerdings waren Zigaretten schon immer mehr als bloß das gewesen, nicht wahr? Er erinnerte sich an das Schulmädchen, das ihre in die Dunkelheit geschnippt hatte - (das hab ich immer furchtbar gern gemacht, Rieh... zusehen, wie die Kippe in die Luft fliegt und runterfällt) - und an den Bogen, den sie beschrieben hatte, funkensprühend wie ein Sternenschauer. Die Dinge dieser Welt, dachte er. In der Ferne, durch die frostige Weihnachtsluft, hörte er einen Hund bellen. Sparky.
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Deutsch von Cornelia C. Walter GOLDMANN VERLAG
Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »The Blue Last« bei Viking, a member of Penguin Putnam
Inc., New York.
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