Grimm - Roman
Freund?«
Vesper schaute auf. »Exfreund«, betonte sie.
»Ich dachte, er ruft noch hin und wieder an.«
»Tut er.« Viel zu oft, dachte sie.
»Und?«
»Ich gehe nicht ran, ganz einfach.«
»Wie war noch sein Name?«
»Kann mich nicht erinnern.«
Die Jungs, die ihr Leben bevölkerten, waren wie die Matrosen am Hafen; und Vesper war eine rastlose Katze, die jeden Freund, dessen Nähe sie für kurze Zeit gesucht hatte, zum Gehen ermunterte. Das war schon in Berlin so gewesen und hier kaum anders.
»Jetzt klingst du richtig herzlos.«
»Weiß ich.«
»Du bist ein Mädchen, das gern Herzen bricht«, stellte Ida fest. Ida, deren Herz selbst einmal gebrochen worden war.
»Ich will nur keine feste Bindung«, knurrte Vesper. »Ich brauche Luft, um zu atmen.«
»Weil du Angst hast, dass es wie bei deinen Eltern endet?«
»Spieglein, Spieglein an der Wand«, säuselte Vesper gespielt entnervt.
»Du bist sehr rastlos für ein junges Mädchen«, stellte Ida fest. »Das ist nicht gut.«
»So bin ich eben.«
»Trotzdem. Ist nicht gut.«
Sie schwieg, einen winzigen Augenblick zu lang.
Ida beobachtete sie.
Schließlich nickte Vesper und flüsterte: »Ja, ich weiß.«
Ida nickte wissend.
»Du kommst dir gern weise vor, nicht wahr?«, stellte Vesper fest.
»Wer tut das nicht?!«
Vesper fädelte einen Faden ein. Ja, Ida wusste Bescheid.
Spieglein, Spieglein …
Die scharfen Spiegelsplitter waren noch immer spitz und konnten schneiden. Die Kindheit auf dem Land, der Umzug nach Berlin, die Karrieren ihrer Eltern, all die kurzen Affären, Kränkungen, heimlichen Vorwürfe. Schließlich die schnelle Scheidung vor zwei Jahren.
Die berühmte Pianistin und der von der Kritik gefeierte Regisseur.
Es war schon schwer genug gewesen, den nervigen Reportern auszuweichen, die ihnen überall aufgelauert hatten.
Und dann das Loch, in das sie gefallen war, danach. Es war alles wie eine Montage aus den Filmen ihres Vaters. Filmen, von denen Vesper meist nur die Plakate kannte.
Ida nähte vor sich hin, ließ Vesper aber nicht aus den Augen.
Vesper tat so, als würde sie ihre Blicke nicht bemerken, und vernähte schnell einen Ärmel.
Sie dachte an das Haus am Theresienstieg, die Villa. Nach nur einer halben Woche, in der Margo und sie ganz kläglich ein Zusammenleben versucht hatten, war sie in eine eigene Wohnung gezogen.
Vesper rieb sich müde die Augen und fragte sich, wohin sie im Leben treiben würde. Die Schule würde bald vorbei sein.
Und dann?
Sie seufzte.
Schaute von der Arbeit auf.
Gaetano steckte den Kopf zur Tür herein. »Telefon, Ida«, sagte er eilig und dann: »Hallo Vesper.« Er wendete sich wieder Ida zu. »Der Kindergarten.«
»Oh, bitte, nicht schon wieder«, stöhnte Ida, legte ihre Utensilien beiseite und stand auf.
Gaetano zog ein Gesicht. »Sieht so aus.« Er deutete auf das lange Kleid, das Ida gerade nähte. »Das muss heute fertig werden. Du kennst John.«
Sie nickte. John war Johannes Halberg und der Regisseur des Stücks. Ein ehemaliger Tänzer, der sowohl die Choreographie des Balletts als auch die Regie übernommen hatte.
Ida warf Vesper einen müden und entnervten Blick zu und verließ missmutig den Raum. Das einzige Telefon befand sich unten im Regieraum.
Nach nur wenigen Augenblicken kehrte sie zurück.
»Das ging schnell«, stellte Vesper fest.
»Du darfst raten.« Sie klang resigniert.
Vesper konnte ahnen, was los war. »Läuse?«
Sie nickte.
»Kein Problem«, schlug Vesper vor. Und lächelte unternehmungslustig.
»Wirklich?«
»Klar doch.«
»Du bist meine Retterin, wenn du das tust«, gestand Ida.
»Weiß ich doch.« Sie sprang eilig auf, schlüpfte in Jacke und Schal. Sie tat das nicht zum ersten Mal. Bevor sie das Theater und Ida verließ, sagte sie: »Du siehst, man weiß nie, wofür es gut ist, die Schule früher zu verlassen.«
Dann machte sie sich auf den Weg.
Der Kindergarten befand sich in der Peterstraße, nahe dem Enckeplatz, gleich neben dem Park. Vesper kannte den Weg. Es war schließlich keine Seltenheit, dass sie Ida in dieser Angelegenheit aushalf.
»Alleinerziehende junge Mütter«, pflegte Ida zu sagen, »sind freie Beute für frustrierte Erzieherinnen.«
Vesper hatte recht schnell gemerkt, was genau sie damit meinte. Es war diese äußerst bevormundende Art, die womöglich jeder Erzieherin in die Wiege gelegt worden war und die einen zur Weißglut bringen konnte. Ida hasste es jedenfalls, sich dort blicken zu lassen. Außerdem
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