Grimm - Roman
Anweisungen an die Darsteller. Sie ging an der Garderobe vorbei in den ersten Stock, wo die Darsteller vor den Vorstellungen geschminkt wurden und wo die Kostüme entstanden.
Um diese Uhrzeit war im Theater wenig los. Die Proben fanden unten statt, und erst am Abend, kurz bevor die Aufführung begann, würde es hektisch werden. Vesper ging den langen Korridor entlang und trat schließlich durch eine grüne Tür auf der rechten Seite.
»Du bist früh dran«, stellte Ida Veidt fest und sah von ihrer Nähmaschine auf, als Vesper den Kopf zur Tür hinein steckte.
»Sei doch froh, dass ich schon hier bin.« Vesper warf ihren Rucksack in die Ecke und nahm an ihrem Tisch Platz.
»Irgendwann werden sie dich feuern.« Ida Veidt war Anfang dreißig, Mutter einer Tochter und alleinerziehend. Ihr rotes Haar war zu zwei Zöpfen gebunden, und der kunterbunte Schmuck, den sie überall trug, klimperte bei jeder Bewegung, die sie machte.
»Scheiß doch auf die Schule«, verkündete Vesper lautstark. Dann berichtete sie in knappen Worten von ihrem Vormittag.
»Deine Mutter sollte sich mehr um dich kümmern.«
»Ich bin dankbar dafür, dass sie es nicht tut.«
Ida schüttelte nur den Kopf. »Ich hätte dir keine eigene Wohnung finanziert, so viel ist sicher.«
Vesper zwinkerte ihr zu. »Schon klar.« Ida musste sich und ihre Tochter mit dem Einkommen über Wasser halten, das sie hier am Theater verdiente. Sie hatte keine reichen Eltern, die ihr unter die Arme griffen. Alles, was sie noch hatte, war der nervtötende Vater ihrer Tochter, der sich regelmäßig um die Zahlungen drückte, sodass Ida mehr schlecht als recht improvisieren musste, um über die Runden zu kommen. »Davon abgesehen«, fuhr Vesper fort, »weißt du, dass meine Mutter mich umbringen würde, wenn sie mit mir zusammenleben müsste. Es ist also für uns beide das Beste.« Dann legte sie los und begann zu arbeiten. Sie breitete die großen Schnittmuster vor sich auf dem Tisch aus und begann die feinen Stoffe danach zu schneiden.
»Du bist dir schon im Klaren darüber, dass du verwöhnt bist?«
»Margo denkt nur an sich. Und ich denke nur an mich. Sie hat nicht mal Zeit gehabt, sich über den Ärger in der Schule aufzuregen. So ist sie nun mal.« Vesper legte die Schere beiseite. »Wir sind uns einfach zu ähnlich. Das wäre niemals gut gegangen, wir beide in der Villa. Herrje, Ida, da darfst du nicht einmal eine verdammte Vase verstellen.«
»Du sollst nicht so viel fluchen.« Ida war viel mehr als eine große Schwester und nur etwas weniger als eine Ersatzmutter. Sie war die gute Freundin, die da war, wenn Vesper sie brauchte.
»Entschuldige.«
»Schon gut.«
Vesper dachte an die Kämpfe, die sie mit ihrer Mutter ausgetragen hatte. Sie hatten einander angeschrien und hin und wieder auch mit Gegenständen geworfen. Ein halbes Jahr nach der Trennung ihrer Eltern waren Margo und Vesper zu einer Therapie angetreten, die sie nach zwei Sitzungen für gescheitert erklärt hatten. Darin zumindest waren sie sich einig gewesen.
»Du bist genauso unzuverlässig wie diese Typen, mit denen du deine Freizeit verbringst«, hatte ihre Mutter sie in der Praxis des ruhigen bebrillten Psychologen angeschrien. »Diese Penner, die Drogen nehmen.«
»Mach dich nicht lächerlich.«
»Und du siehst in diesen Klamotten schlampig aus.«
»Sagt die Richtige.«
Margo hatte nach Luft geschnappt. »Du verlotterte Drecksschlampe!«
Und was hatte Vesper damals entgegnet? »Ist bestimmt toll, zu sehen, dass die Tochter nach einem selbst gerät.«
Ihre Mutter hatte sie daraufhin geohrfeigt, fest mit der flachen Hand, und die Ringe, die sie an den Fingern trug, hatten Vespers Haut aufplatzen lassen. Fassungslos hatte sie die Wunde berührt und das Blut auf ihren Fingerspitzen angestarrt.
Nur wenige Sekunden später hatten sich beide wieder in den Armen gelegen und geweint. Dann waren sie in einem vornehmen Restaurant essen gegangen und hatten wie beste Freundinnen den ganzen Nachmittag über unwichtige Dinge geredet.
Vesper musste auch jetzt leise lächeln, wenn sie daran dachte. Sie hasste ihre Mutter und sie liebte sie innig. Margo Gold, die berühmte Konzertpianistin. Man hatte es nicht einfach, wenn man als ihre Tochter geboren wurde.
»Was ist los mit dir?«, wollte Ida wissen.
»Was meinst du?«
»Du bist nicht gerade gut gelaunt.«
»Wie kommst du drauf?«
»Ich kenne dich.«
Vesper legte zwei Stoffteile zusammen und korrigierte den Schnitt.
»Was ist mit deinem
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