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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Klamotten, die sie von den Bildern in ihren alten Geschichtsbüchern, die sie nie gelesen hatte, kannte.
    »Sieht aus wie der Hofstaat.« Andersen ging vorsichtig an ihnen vorbei.
    Die Menschen mit den Spiegelaugen beobachteten sie. Keiner verneigte sich. Sie standen nur da wie Statuen, erfroren
im Moment, als sei ihnen gar nicht bewusst, dass mit den fallenden Schneeflocken auch stetig die Zeit verging.
    Tick, tack, tick, tack.
    Immer ein wenig mehr.
    Fairytale gone bad, dachte Vesper erneut.
    Leander jedenfalls wich, seit sie die Burg betreten hatten, nicht mehr von ihrer Seite.
    Er schaute völlig fasziniert gen Himmel, rückte sich die Fliege zurecht und sah aus wie ein leicht irrer Archäologe, der sich gedankenverloren in eine Falle begibt, weil die Erkenntnis, die er dabei gewinnt, jede Gefahr rechtfertigt.
    »Allons-y«, sagte er entschlossen.
    Vesper musste grinsen.
    »Was ist?«
    »Das war irgendwie unpassend.«
    »Finde ich nicht.«
    Sie schmunzelte, zog sich den Schal enger um den Hals.
    Über der Burganlage erhob sich ein gewaltiger Turm. Er war rund und so hoch, dass er fast schon die Wolken berührte. Vesper sah keine Treppe und keine Tür, da war nur graues Mauerwerk, an dem weitere Dornenzweige emporrankten. Sie bewegten sich wie Schlangen über den grauen Stein, trafen fauchend aufeinander und verbanden sich zu dickeren Ästen, die sich wie Adern weiter oben dann erneut teilten, um nach Rissen und Lücken in der Mauer zu tasten.
    Vesper ließ den Blick nach oben gleiten, und dann sah sie es.

    »Da!«
    Andersen bemerkte es auch.
    Hoch oben befand sich ein Fenster, nichts weiter.
    »Die Königin lebt dort oben?«, fragte Andersen.
    Meister Grim, der Menschenwolf, nickte.
    »Ich bezweifle, dass sie ihr Haar nach unten lässt«, meinte Leander.
    Keiner schien das so richtig komisch zu finden.
    Meister Grim indes ging auf die Dornenhecke zu und berührte sie mit seiner krallenbewehrten Pranke. Augenblicklich zogen sich die Dornenzweige raschelnd zurück, schnell wie Natterngezücht.
    Vesper erkannte drei Schlüssellöcher in der freigelegten Turmmauer, sonst nichts. Da war keine Tür, nur die drei Löcher, die aussahen, als wären sie für die Schlüssel, die sie alle drei bei sich trugen, gemacht. Rostiges Metall, verziert mit den Symbolen der Winterwelt.
    »Öffnet den Turm«, sagte Meister Grim.
    Vesper stutzte.
    Warum wollte er, dass sie das taten? Hatte die Hexe nicht gesagt, dass die Mythen gerade dies verhindern wollten? Dass sie dem letzten Erlkönig auf seinem Feldzug gegen die Menschheit folgten? Dass der letzte Erlkönig niemanden mehr fürchtete als die Schneekönigin, die er einst verraten hatte?
    »Warum sollten wir das tun?«, fragte Andersen.
    Die Wölfe hätten ihnen die Schlüssel abnehmen können, um den Turm selbst zu öffnen.
    Aber nein, das hatten sie nicht getan.

    Warum nicht?
    Weil sie ihn nicht öffnen könnten, selbst mit den Schlüsseln nicht, dachte Vesper. Doch was wurde hier dann gespielt? Meister Grim hatte gesagt, die Königin erwarte sie. War die Hexe doch nicht auf ihrer Seite gewesen? Hatte Dornröschen sie verpfiffen? Oder ging es um etwas völlig anderes?
    »Tut es!«, donnerte die Wolfsstimme, von plötzlicher Ungeduld erfüllt.
    »Und wenn nicht?« Vesper klang wieder so schnippisch wie früher, und ihr Mut verwunderte sie selbst am meisten.
    »Wird sein Bruder sterben«, sagte Meister Grim, entblößte die spitzen Zähne, deutete mit einem Kopfnicken zu Leander. »Das wäre doch jammerschade, gerade jetzt, wo ihr endlich hier seid.« Der Spott troff ihm geradezu von den Lefzen.
    »Also gut, allons-y .« Leander trat als Erster vor. Er hielt seinen Schlüssel in der Hand. »Ich weiß nicht, was für ein Spiel Sie hier treiben«, sagte er. »Aber wenn es eine Möglichkeit gibt, meinen Bruder zu retten.« Er sprach nicht mehr weiter. Er ging einfach zur Mauer, steckte seinen Schlüssel in eines der Schlösser hinein und sagte laut und mit theatralisch verstellter Stimme: »Sesam öffne dich.« Es gab ein rostiges Geräusch, schnarrend und knarrend, doch dann steckte der erste Schlüssel fest.
    Andersen tat es ihm nach. Mit ernster Mine steckte auch er seinen Schlüssel ins Schloss.
    Danach folgte Vesper.

    »Ich hoffe nur, wir tun das Richtige«, sagte sie leise. Leander nickte ihr zu.
    Fairytale gone bad.
    Die Melodie des Lieds ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
    Und als der letzte Schlüssel in seinem Schloss umgedreht worden war, da streckte die Dornenhecke ihre

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