Grimm - Roman
»Immerhin haben sie niemanden gefressen«, ergänzte Leander.
Vesper schwieg.
Sie fühlte sich schwach und müde. Jegliches Zeitgefühl war ihr abhandengekommen.
»Sie sieht verwunschen aus«, entfuhr es ihr.
Leander nickte. »In der Winterwelt ist alles möglich.«
Dichte Dornenhecken rankten sich an den Mauern entlang. Schnee und Frost glitzerten auf ihnen, spitz stachen die Dornen die zackigen Schatten aus, die sie warfen.
Die Wölfe ließen sie nicht aus den Augen. Sie knurrten und liefen im Kreis um sie herum. Manche von ihnen völlig aufrecht, andere trabten in ihrer typischen Haltung umher.
»Sie werden uns begleiten«, sagte der Menschenwolf, der jetzt mehr Mensch als Wolf war. Zum ersten Mal sah sie deutlich sein Gesicht. Irgendwoher kam es ihr bekannt vor. Sie dachte an Märchenbücher, konnte es aber dennoch
nirgends richtig einordnen. Er trug einen langen Mantel und sah so aus, wie sich ein Kind den Jäger vorstellt.
Vesper berührte ihren Kopf und verzog das Gesicht.
»Die Königin erwartet Sie!«, verkündete der Menschenwolf. Seine schwarzen Augen ruhten auf dem Ring, den man ihr offenbar nicht abgenommen hatte.
Vesper wusste noch gar nicht, wie ihr geschah.
Sie fragte sich, ob sie ihre Gabe benutzen sollte, unterließ es dann aber. Das Gefühl, dass alles anders war, als sie vermutet hatte, war stark. Außerdem blieb Leander ebenfalls ruhig.
Und Andersen analysierte anscheinend die missliche Lage. Auch er wirkte eher fasziniert als besorgt, zumindest im Augenblick noch.
Leander trat dicht neben sie. »Er hat gesagt, dass mein Bruder dort oben sei.«
Vesper sah ihn fragend an. »Alexander?« Sie konnte kaum glauben, dass es erst zwei Tage her war, dass er ihr die Geschichte von seinem Verschwinden erzählt hatte.
»Sie sagen, wenn wir freiwillig mitkommen, dann werden sie ihn freilassen.« Leander wirkte verzweifelt und aufgedreht. »Kannst du dir das vorstellen, nach all den Jahren?«
Sie schüttelte den Kopf.
Die Hoffnung, die in seinen Augen aufblitzte, war kaum zu übersehen.
Wenn Amalia hier wäre, dann würde ich durchdrehen, dachte sie nur und ertappte sich bei dem hoffnungsvollen Gedanken,
dass sie es vielleicht sein könnte. Dass sie womöglich gar keinen Selbstmord begangen hatte, sondern irgendwo in dem verwunschenen Land hier lebte.
Fairytale gone bad.
Sie beobachtete die Wölfe, und die Wölfe beobachteten sie.
Warum nahmen sie ihr den Ring und den Schlüssel nicht einfach ab? Nach allem, was die Hexe ihnen vorhin erzählt hatte, waren sie doch nur hinter diesen Gegenständen her.
Oder ging es womöglich um etwas völlig anderes?
Ein Wolf trat von hinten an Vesper heran und stieß sie sanft mit der Schnauze an.
»Wir sollten jetzt gehen«, schlug der Menschenwolf vor.
»Wie sollen wir Sie anreden?«, fragte Vesper.
»Nennt mich Meister Grim«, erwiderte er.
Andersen fragte: »Wie die Brüder?«
Hatte er vielleicht sogar etwas mit ihnen zu tun?
Der Menschenwolf namens Meister Grim fauchte sie wütend an, und das Tier in ihm gewann für einen Augenblick die Oberhand, schimmerte dumpf in den wilden Augen, ließ sich dann aber wieder zähmen und kehrte unter die menschliche Haut zurück. »Fragt das niemals wieder«, knurrte er und bedachte sie mit einem zornigen Blick. »Und jetzt kommt!«
Sie folgten dem steil ansteigenden Weg bis zu der gewaltigen Dornenhecke, die, ohne dass sie etwas getan hätten, vor ihnen urplötzlich zur Seite wich und den Eingang zur Burg freigab.
Die Mannspforte neben dem riesigen Tor öffnete sich wie von Geisterhand und erlaubte ihnen, den Burghof zu betreten.
Vesper blickte sich misstrauisch um.
Die hohen Gebäude waren auch hier, im Inneren der Burg, alle von den unkontrolliert wuchernden Dornenranken eingeschlossen, die sich nun bewegten wie zähe Tentakel. Hinter den Fenstern mit ihren bunten Butzenscheiben waren Lichtschimmer zu erkennen.
Der Vollmond ging auf.
Die Nacht brach herein.
Vesper fragte sich, wie lange sie bewusstlos gewesen war.
»Er hat dich den ganzen Weg bis hierher getragen«, flüsterte ihr Andersen zu und deutete auf Leander, der von zwei schwarzen Wölfen flankiert wurde. »Hat es sich nicht nehmen lassen und dich nicht mehr aus den Armen gegeben.« Er lächelte ihr zu.
Vesper schluckte.
Sie fürchtete sich.
Bemerkte die vielen seltsamen Menschen auf dem Burghof, deren Augen alle wie Spiegel waren. Sie trugen Kleidung, die einstmals gewiss elegant war, jetzt aber nur verwittert und schäbig wirkte.
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