Grimm - Roman
dürren Zweige tief ins Mauerwerk, und eine Öffnung entstand. Es war keine Tür, nur ein Durchlass, der sich später, das ahnte Vesper, wieder schließen würde. Dahinter war eine gewundene Treppe zu erkennen, die bis nach oben in den Turm führte.
»Worauf warten?«, meinte Leander nur.
Wieder fragte sich Vesper, wie sie wohl von hier zurückkehren könnten in die andere Welt vor dem Spiegel; immer vorausgesetzt, dass sie die Nacht heil überstehen würden. Das alles wurde immer mehr zu einem schlechten Traum, aus dem es kein Erwachen mehr gab.
»Kommt!«
Sie folgten dem Menschenwolf. Mit großen Schritten preschte er voran, die Wendeltreppe hinauf.
Andersen, Leander und Vesper folgten ihm, flankiert von weiteren Wölfen, die ihnen keine Verschnaufpause zugestanden.
Drinnen hingen zunächst viele Bilder an den Wänden.
Gemälde, die Wälder und Wiesen zeigten. In leuchtenden Farben, so lebendig und wunderbar, dass man fast schon das Plätschern des Wassers in den Bachbetten und
das Summen der Bienen zwischen den Blumen zu hören vermochte.
Die Winterwelt, wie sie einst war? Wer vermochte das schon zu sagen?
Wie auch immer.
Sie hatten keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Nackte menschliche Arme ragten wie Trophäen weiter oben aus den Wänden. Sie hielten Kandelaber, die brannten, wachstropfende Kerzen, sterbensgleich in der Dunkelheit dieses Turms. Vesper hatte auch bei ihnen keine Ahnung, wie sie hierhergekommen waren; sie waren da, und nur das zählte.
Sie rannten und rannten.
Der Turm schien endlos in die Höhe zu ragen.
Dann, endlich, hatten sie es geschafft.
Oben angekommen, fanden sie sich in einem kreisrunden Raum wieder, einer Rotunde, die leer und verlassen war. Auch nicht ein einziges Möbelstück befand sich hier.
Nur der schneeweiße Boden war mit einem rosenroten Teppich bedeckt. Ein Lichtstrahl drang durch das Fenster hinein und ließ die Wände glitzern. Da erst erkannte Vesper, dass sie mit Eiskristallen bedeckt waren.
War draußen nicht Nacht?, fragte sie sich. Wo kommt das Licht her, wenn nicht von der Sonne?
Noch so eine Frage, auf die es keine Antwort gab.
»Das ist also das Turmzimmer«, flüsterte Leander ihr zu. Er war nervös und redete, damit er es selbst nicht merkte.
Vesper ergriff rasch seine Hand, drückte sie, ließ wieder los.
Du bist nicht allein.
Die Wände waren voller Eis, das den Stein überzog. Es war überall, wie eine Haut, die kalt war und atmete und einst Wasser gewesen sein mochte, nun erstarrt.
Und in dem Eis sahen sie die Schneekönigin.
Ihr wunderschönes Gesicht war ganz bleich und hell, und ihre Augen waren reinste Kristallspiegel. Nichts drang in sie, alles reflektierte, was vor ihr stand. Sie war filigran und furchterregend zugleich.
»Seid gegrüßt!« Die Stimme war wie die Stille vor dem Schneefall. »Ihr wundert euch sicherlich über meine Augen.« Die Stimme klirrte wie Winter, der Flüssen das Wispern verbietet. »Die Kälte der Welt erreicht mich nicht, denn die Spiegel sind unbarmherzig.« Ihr Haar umwallte sie wie sprudelndes Quellwasser, das zu Eis und Schnee geworden war.
»Was wollen Sie von uns?«, fragte Andersen.
Die Gestalt im Eis trug ein prächtiges Gewand, tiefrot und wunderschön. »Ich habe euch nicht eingeladen«, sagte sie. »Und doch seid ihr gekommen.« Ihr eisiges Lächeln tat jedem weh, der es erblickte. Es war wie ein Stich ins Herz, vollführt mit spitzer Klinge. »Ihr seid gekommen, um mich zu finden, Menschenkinder.«
Vesper wusste nicht, was sie jetzt tun sollte.
Sie stand der Schneekönigin gegenüber.
Wahnsinn!
»Die Hexe hat euch hergeschickt.« Das war eine Feststellung. »Und Meister Grim ist euch gefolgt.« Sie lächelte, und ihre Gestalt bewegte sich hinter dem Eis, als gebe es dort weitere Räume und Gefilde, die zu entdecken außer ihr selbst niemand in der Lage war.
»Ihr wollt mich töten«, mutmaßte sie. »Die Menschen, das müsst ihr wissen, kommen nämlich nur zum Töten in dieses Winterland.« Die Bitternis in ihrer Stimme ließ das Eis an manchen Stellen springen. Schmale Risse durchzogen es, wo die Schneekönigin vorüberschritt.
»Wir wollen, dass Sie die Kinder befreien«, sagte Leander mit fester Stimme.
Die Schneekönigin sah ihn mit ihren Spiegelaugen an. »Nie hat eine Träne diese Augen bersten lassen«, sagte sie. »Nun denn, ihr Menschenkinder. Ihr fürchtet euch also vor uns.«
»Tut den Kinder nichts an«, bat Vesper sie. »Nur deswegen sind wir
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