Grimm - Roman
Karlstein sonst finden? Wir haben doch keine Vorstellung, wie groß das alles hier ist, und keinerlei Orientierung.«
Sie dachte an die gruseligen Märchen, in denen sich Entfernungen andauernd veränderten. In diesen Märchen war alles möglich, warum sollte es in der Welt der Mythen anders sein?
Vesper rieb sich die Hände.
Die Kälte jedenfalls war garstig. Sie kroch einem in die Kleider, egal, was man dagegen tat.
Langsam, vorsichtig, gingen sie geduckt weiter, umrundeten das Dorf und blieben unentdeckt.
Sie kamen an einem Pferch vorbei, in dem Einhörner an ihren Futtertrögen fraßen. Sie schnaubten ihren Atem in den Nebel und ihre Hufe versanken tief im Schlamm.
Andersen hatte die Arme fest um seinen Körper geschlungen.
Dann, als sie sich weit genug entfernt hatten, sagte er leise: »Es gibt sie also doch noch.«
»Glauben Sie, das waren richtige Mythen?«
»Sie sahen jedenfalls nicht nett aus, wer auch immer sie waren.«
Vesper sah die beiden an und sagte: »Wir haben eben Dornröschen getötet. Also was erwartet ihr beiden?«
Andersen und Leander schwiegen.
So gingen sie weiter, ohne auf eine Straße oder eine Burg zu stoßen.
Der Wald, in den sie schon kurz nach Verlassen der Dorfes gerieten, schien immer unübersichtlicher zu werden. Völlig planlos bewegten sie sich bergauf in jene Region, die ein wenig wie der Brocken aussah, es aber nicht war.
Dichte Tannen und andere Nadelbäume absorbierten jetzt geradezu die letzten Reste des kümmerlichen Tageslichts.
Vesper fühlte sich hier gar nicht wohl. »Hat sich mal jemand darüber den Kopf zerbrochen, wie wir zurückkommen?«, fragte sie.
Andersen und Leander starrten sie an.
Beide schwiegen.
»Also nicht«, gab sie sich selbst die Antwort.
Na, toll.
Da, plötzlich, bedeutete Andersen allen, stehen zu bleiben.
Vespers Herz begann aufgeregt zu pochen, als sie im Nebel gleich vor sich eine hochgewachsene Gestalt zu erkennen glaubte, die ebenso schnell wieder verschwand, wie sie aufgetaucht war. Das Geschöpf bewegte sich auf zwei Beinen geschmeidig und schnell durch das dichte Unterholz.
»Ein Wolf«, flüsterte Leander.
»Ein Wolf auf zwei Beinen«, korrigierte sie ihn.
Andersen hielt jetzt die Pistole im Anschlag und spähte dorthin, wo vor Augenblicken noch jene seltsame Gestalt zu erkennen gewesen war.
»Hast du ihn gesehen?«
»Ja.«
»Es war also keine Einbildung.«
»Glaubst du, sie sind uns gefolgt?«
»Den langen Weg von Hamburg bis hierher?« Er sah sie zweifelnd an.
»Er hatte spitze Ohren«, stellte sie fest. Hatten die Viecher in Blankenese spitze Ohren gehabt? Sie wusste es nicht mehr.
Ein langgezogenes Heulen erfüllte mit einem Mal den Wald.
Und dem Heulen folgte eine beängstigende Stille.
Nichts rührte sich.
»Von woher kam das denn?«
Alle hielten die Luft an.
Nichts mehr.
War es möglich, dass das Tier sie gar nicht bemerkt hatte?
Vesper hoffte es.
Sie verhielten sich jedenfalls alle ruhig und gingen nach einiger Zeit leise und vorsichtig weiter.
Nach einer Weile erreichten sie den Eingang zu einem kleinen Tal, zu dessen beiden Seiten sich zackige Felsen erhoben. Ein schmaler Fluss schlängelte sich zugefroren durch die Wälder. Aus der Ferne erklang erneut jenes
langgezogene Heulen, diesmal aus vielen Kehlen. Und unten im Tal erkannte man die Silhouette einer Burg.
»Karlstein«, flüsterte Vesper.
Und dann sah sie die Wölfe. Sie pirschten sich durchs Unterholz an, man konnte ihre schwarzen Leiber deutlich erkennen.
Sie jagen, dachte Vesper und erschauderte. Sie tun das, was ihrer Art entspricht.
Ein Reihe von Geißen umringte einen Brunnen, der sich auf einer Lichtung befand, und Vesper fragte sich, was sie da machten. Das stattliche Tier, das die Mutter sein mochte und - Vesper konnte es nicht glauben - ein altmodisches Kleid und eine schicke Haube trug, hob hin und wieder den Kopf, um vorsichtig Witterung aufzunehmen. Die Kleinen tranken aus einem Eimer Wasser, nachdem sie das Eis zerschlagen hatten.
Als der Angriff dann endlich kam, überraschte er alle.
Die Wölfe liefen hier, wenngleich ein wenig gebeugt, auf den Hinterläufen. Ihr dunkles Fell schimmerte im fahlen Licht des aufgehenden Mondes, und die spitzen Ohren gaben den Gestalten etwas Bösartiges. Es waren vier Wölfe, die mit der Jagd auf die Geißenmutter und die kleinen Geißlein begannen, doch nach wenigen Augenblicken sah Vesper, dass die Wölfe die Geißlein auf eine weitere Gruppe zutrieben, die am anderen Ende der
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