Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
Lichtung auf die Beute wartete. Sobald die armen Tiere in ihre Reichweite gekommen waren, schlugen sie zu. Gleich acht der Kreaturen sprangen die kleinen Geißlein und ihre Mutter an. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance.

    »Das ist in der Tat keine heile Märchenwelt«, gab Leander zu bedenken.
    Benommen beobachteten sie, wie die Wölfe die Geißlein auffraßen, bis der Schnee auf der Lichtung rot vor Blut war.
    »Sieh nur«, flüsterte Leander. »Sie haben aufgehört zu fressen.«
    Ruckartig hoben sich die Köpfe der Kreaturen.
    Ein wütendes Heulen aus vielen Kehlen erklang.
    »Sie haben uns entdeckt!«, stieß Andersen hervor. »Lasst uns abhauen.«
    »Aber wohin?«, keuchte Vesper. Alles in diesem verfluchten Wald sah gleich aus.
    »Vielleicht gelingt es uns erneut, sie abzuhängen«, hoffte Andersen.
    »Oder wir verteidigen uns wie eben«, meinte Leander.
    »Vorhin haben wir nur Glück gehabt. Dornröschen war allein. Die Wölfe sind das nicht«, gab Vesper zu bedenken.
    »Dann laufen wir halt«, brachte es Leander auf den Punkt.
    Und so rannten sie durch den Schnee, doch die Wölfe, das wusste Vesper, waren schneller. Burg Karlstein war irgendwo da unten im Tal. Sie würden es nicht schaffen, vor den Wölfen dort zu sein.
    Und doch mussten sie es versuchen.
    Einen besseren Plan hatte keiner von ihnen.
    Dabei wussten sie ja nicht einmal, ob sie überhaupt in die Burg hineingelangen würden. Hatte die Hexe nicht von
einer Dornenhecke gesprochen, die sich um die Mauer rankte?
    Vesper fluchte.
    Sie lief bergab und hatte das Gefühl, als würde sie den Wölfen entgegenrennen.
    Sie dachte an die schwarzen Leiber der Wölfe, die durch den Wald rannten. An die glühenden Augen, die blitzenden Zähne. Sie drehte sich um. Leander war dicht hinter ihr, Andersen irgendwo neben ihr. Die Bäume bewegten sich bedrohlich. Etwas flog an ihrem Kopf vorbei, und als sie ihm hinterherschaute, da erkannte sie eine Schleiereule, die mit ihren Krallen ein Stück aus ihrer Jacke gerissen hatte.
    Sie stolperte über eine Wurzel, die sich vor ihre Füße geschlängelt hatte, als sei sie mit den Verfolgern im Bunde. Sie stürzte in den Schnee, purzelte nach vorn, rutschte einen Hang hinab. Als sie unten angekommen war, schnappte sie erst mal nach Luft.
    Oben stand Leander.
    Er drehte ihr den Rücken zu. Dann wurde er von einem Schatten zur Seite gerissen.
    Von weiter hinten hörte Vesper einen Schuss. Sie kannte den Klang. Es war Andersens Pistole. Lautes Knurren zerriss die Stille.
    Ein langer Schatten fiel plötzlich über sie.
    Als sie sich umdrehte, sah sie in das unrasierte Gesicht des Menschenwolfs, dem sie dieses Mal nicht entkommen würde.
    »Und die Moral von der Geschicht.« Mit einem schnellen Sprung war er bei ihr. »Mädchen weich vom Wege
nicht.« Seine Stimme war tief und boshaft. Spitze Zähne blitzten direkt vor ihr auf. Dann, noch bevor sie einen klaren Gedanken, der nicht Furcht war, fassen konnte, schlug er mit der Pranke nach ihr, und alles um sie herum wurde schwarz.
     
     
     
    Sie spürte eine Kälte wie von Eissplittern, tief unter der Haut.
    Sie öffnete die Augen und versuchte zu erkennen, wo sie war. Alles tat ihr weh.
    »Vesper«, hörte sie ihren Namen, und dann war Leander bei ihr.
    »Wo bin ich?«
    »Vor Burg Karlstein«, antwortete ihr Jonathan Andersen. »Sie haben uns alle hierhergebracht.«
    Sie öffnete langsam die Augen. Der Kopf tat ihr weh.
    »Du bist unverletzt«, sagte Leander, und seine Hand mit den langen Fingern fuhr ihr beruhigend durchs Haar, zärtlich und besorgt.
    Sie sah ihn an. Versank erneut in diesen Augen, ließ es einfach geschehen, wenn auch nur für Sekunden.
    Dann wurde sie der Wölfe gewahr, die sie umringten. Es war ein Rudel, das sie bewachte. Sie konnte das feuchte Fell der großen Tiere riechen. Wie Wald und Tannennadeln, Bachläufe und erdige Ufersteine. Der Atem stand ihnen in kleinen Wolken vor den langen Schnauzen.
    Sie hob den Blick.

    Burg Karlstein erhob sich vor ihr aus dem Wintergestöber. Sie lag auf dem Boden, mitten auf dem Weg, der hinauf zur Burg führte. Sie setzte sich auf, klopfte sich den Schnee von den Klamotten.
    Sah erneut zur Burg hinauf.
    Wie eine Märchenburg, so sah sie aus. Da waren hohe und eckige Gebäude, schlanke Türme mit kegelförmigen Dächern, Balustraden und Mauern, die sich in das Felsgestein krallten, als hinge ihr Leben davon ab. Nur ein schmaler Weg führte von dort hinab ins Tal.
    »Wir mussten ihnen folgen«, erklärte Andersen.

Weitere Kostenlose Bücher