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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Eiswelt, formte sich eine Silhouette zu einer Gestalt. Sie trat auf das Eis an der
Wand zu. Ihr Gesicht konnte man noch nicht erkennen. Sie streckte die Hände aus, und Risse zeigten sich im Eis. Dann betrat die Gestalt das Turmzimmer.
    Andersen, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, fragte sofort: »Wer sind Sie?«
    Doch Vesper sah, dass Leander heiße Tränen in die Augen traten.
    Nie hätte sie gedacht, ihn jemals so verletzt zu sehen. Er stand wie versteinert da, sein Mund bewegte sich, aber kein Ton kam ihm über die Lippen. Er war wie gelähmt, erstarrt in diesem Moment, den er so lange, das wusste sie, herbeigesehnt hatte.
    Sie schaute zu der Gestalt, die aus dem Eis getreten war.
    Ein Junge war es, und er hatte die gleichen Augen und das gleiche Kinn wie Leander.
    »Sie haben mir gesagt, dass du kommst«, sagte Alexander Nachtsheim. »Aber ich habe es ihnen zuerst nicht geglaubt.« Mit langsamen Schritten ging er unsicher auf seinen großen Bruder zu.
    Leander schüttelte den Kopf. »Du …« Die Stimme versagte ihm.
    »Kannst du dich an den Tag erinnern? Auf dem Schulhof?«
    Leander brachte keine Antwort heraus.
    »Sie haben mich nicht getötet.« Alexander war so alt wie Vesper, aber älter wirkte er dennoch.
    Sie fragte sich, ob dies alles ein Trugbild war, das die Schneekönigin ihnen vorgaukelte. Und ein Blick in Leanders
Augen genügte, um ihr zu sagen, dass er das Gleiche dachte.
    Wie konnte es sein, dass er jetzt hier war? Nach all den Jahren?
    »Alexander!«
    Der verlorene kleine Bruder machte drei schnelle Schritte auf Leander zu, und dann fielen sie einander in die Arme.
    Leander weinte. »Du bist da«, flüsterte er und hielt fest, was er niemals hätte verlieren dürfen.
    Er tat Vesper so leid, weil es nie einfach ist, einen Jungen so weinen zu sehen. Wie gern hätte sie ihm jetzt beigestanden. Sie fühlte sein Glück, all seine Erleichterung, jede Träne.
    »Du bist wieder da«, stammelte er. Er war fassungslos, zitterte am ganzen Körper.
    Die Schneekönigin beobachtete das alles mit kalten Spiegelaugen.
    »Wo hast du nur gesteckt?«, fragte Leander mit bebender Stimme.
    »Ich war hier, im Winterland.«
    »Aber warum?«
    Vesper sah, wie Leander die Augen aufriss. Erstaunen malte eine entsetzliche Farbe auf sein mit einem Mal ganz fahles Gesicht.
    »Weil du mich vergessen hast, Bruder!« Alexander löste sich aus der Umarmung, und erst jetzt erkannte Vesper die Klinge, die Leander aus dem Rücken ragte. Blut tränkte den Mantel, den er trug, dunkelrot.

    Vesper schrie auf und stürzte zu ihm, noch bevor er zu Boden sank.
    Leander indes hatte seinen kleinen Bruder die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen.
    Alles, was im Winterland lebt, erinnerte sich Vesper der Warnung der Hexe, ist durchdrungen von bitterstem Hass!
    »Auf diesen Moment habe ich all die Jahre gewartet«, zischte Alexander mit Genugtuung.
    Leander verstand überhaupt nichts.
    Vesper hielt ihn fest und weinte. »Was hast du getan?«, schrie sie den kleinen Bruder an.
    Doch der beachtete sie gar nicht. Er sprach einzig und allein zu Leander, spie ihm Worte wie Gift entgegen: »Du hast nicht nach mir gesucht! Ein halbes Leben hast du mich bei ihnen gelassen!«
    Leander weinte noch immer. »Das stimmt nicht«, sagte er matt.
    »Du hast gesehen, dass die Wölfe mich geraubt haben, aber du hast nichts getan, weil du insgeheim froh warst, mich los zu sein. Sie hat sich um mich gekümmert.« Wütend ging er im Turmzimmer umher, umkreiste Vesper, die neben Leander am Boden kniete, Angst davor hatte, das Messer aus der Wunde zu ziehen, und nicht wusste, was sie tun sollte. »Hier haben mir alle gesagt, dass niemand kommen wird, um nach mir zu suchen. Dabei haben sie es gewusst!«
    Leander schüttelte den Kopf.
    »Unsere Eltern gehörten der Bohemia an. Sie wussten, wie sie hätten hierhergelangen können.« Sein Gesicht war
das hasserfüllte Abbild von Leanders. »Aber sie haben mich den Wölfen überlassen. Sie wollten ihr eigenes Spiegelbild nicht sehen.« Er trat auf seinen Bruder zu und zog ruckartig das Messer aus der Wunde.
    Leander schrie vor Schmerzen auf, und immer neues Blut ergoss sich sprudelnd über Vespers Hände.
    Sie schrie, kreischte, weinte, doch nichts davon würde ihn halten.
    Leander Nachtsheim sah sie an, und sie erkannte ihr eigenes bleiches Gesicht mit all den Tränen darauf in seinen wunderschönen Augen; jenen Augen, die ein Meer waren, in dem sie schon viel früher hätte ertrinken sollen.
    Sein

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