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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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immerhin.
    Zwei Straßen weiter bestellte sie zwei Espressi, knabberte an einem Croissant und überflog die Morgenpost . Die berühmte Pianistin Margo Gold sei in ihrem Haus in St. Georg verbrannt.
    Toll, die Familie schaffte es jeden Tag in die Schlagzeilen! Die Tussis in der Schule würden sich die Mäuler zerreißen deswegen. Vesper Gold war bestimmt das Thema des Tages auf dem Schulhof und bei Facebook .
    Was soll’s …

    Vesper seufzte und trank den Rest des mittlerweile kalten Espressos. Es war nur eine sehr kurze Mitteilung in der Zeitung - und doch war sie für Vesper wie ein schriller Weckruf, weil ihr bewusst wurde, dass nichts von dem, was ihr im Kopf herumspukte, ein Traum gewesen war.
    Sie verließ das Segafredo und ging zu Fuß bis zur Stadthausbrücke und fühlte sich allein und verloren.
    Das Gefühl, vom Weg abgekommen zu sein, war schon jetzt so stark, dass Rotkäppchen wohl kaum anders empfunden haben konnte. Sie telefonierte von einem öffentlichen Telefon aus mit der Schule und meldete sich für drei weitere Tage krank.
    Sie löste ein Tagesticket, ging zur Linie 11 der S-Bahn in Richtung Wedel und sprang in den nächsten Zug.
     
     
     
    Die schmutzigen Wagen, die Richtung Hamburg fuhren, waren vollgestopft mit Pendlern, die sie auf die Bahnsteige ausspuckten, eine Masse unglücklich und neidisch aussehender Krawattenträger und Schüler. Glücklicherweise war der Zug in Richtung Blankenese fast leer. Wer fuhr schon morgens um diese Zeit dorthin?
    Vesper suchte sich einen Sitzplatz, lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe, ließ sich vom Rhythmus des Zuges hinwegtragen.
    Noch immer lief das Lied in ihrem Kopf.
    On dit que je suis né le jour le plus froid du monde.
    On dit que je suis avec le cœur gelé.

    Mit leerem Blick ließ sie draußen die Elbe am Fenster vorbeiziehen. Als sie Altona hinter sich ließen, veränderte sich das Stadtbild schnell. So sah es also aus, wenn man der Spur aus Rosenstaub folgte. Im botanischen Garten in Klein Flottbek klirrte überall auf den Bäumen Schnee, in dem sich das matte Licht der grauen Sonne brach. Vesper berührte den Ring an ihrem Finger und konnte die Augen nicht von ihm abwenden.
    Sie mochte den Ring, als sei er schon immer in ihrem Besitz gewesen. Sie konnte nicht sagen, warum dies so war, aber der Ring war etwas, was sie an ihren Vater erinnerte. Sie stellte ihn sich vor, wie er den Ring und den Schlüssel in dem Briefumschlag beim Notar abgab.
    Was hatte er sich nur dabei gedacht?
    Sie wusste es nicht.
    Vielleicht, so hoffte sie inständig, würde sie es wenigstens bald herausfinden. Vielleicht wüsste Friedrich Coppelius die Antworten. Im Internet hatte sie kurz nach ihm gesucht und war schnell fündig geworden. In den Sechzigerjahren war er in ersten Rollen zu sehen gewesen. Ein kleiner Mann mit schwarzem Haar und einer Brille, markantem Gesicht und sportlicher Attitüde. Er hatte in Krimis oft den Bösewicht gespielt, seltener den Liebhaber oder Helden. Über sein Privatleben erfuhr man nicht viel im Netz. Er war lange Jahre verheiratet gewesen, keine Kinder. Seine Frau war vor fünf Jahren gestorben, und das war alles, was Vesper in Erfahrung hatte bringen können. Bilder neueren Datums fand man keine, nur Standfotos
und Szenenbilder aus der Blütezeit des deutschen Kinos der Sechziger- bis Siebzigerjahre.
    Das war alles, das war die Spur aus Rosenstaub, der sie folgte.
    Ihr mattes Spiegelbild im Fenster wirkte alles andere als zuversichtlich, und doch gab es sonst nichts zu tun, als diese Flucht nach vorn anzutreten. Und deswegen zweifelte sie keinen Moment daran, das einzig Richtige zu tun.
    Während draußen die Welt im Grau des Wintertages verwischte, lauschte sie also dem Lied in der Endlosschleife und gab sich ganz der Sprache hin, die sie nur kümmerlich verstand.
    Nach halbstündiger Fahrt erreichte die S-Bahn schließlich Blankenese.
    Vesper trat auf den Bahnsteig hinaus und sah die sanfte Erhebung des Sellbergs vor sich.
    Erst ein einziges Mal in ihrem Leben war sie hier gewesen, an einem schönen Tag Ende August, den sie mit vielen Theaterleuten untätig in der Sonne lungernd unten am Strand und am Jollenhafen verbracht hatte. Es war ein perfekter Tag gewesen, so angefüllt mit Lachen und Musik und Unbeschwertheit, dass er ihr im Nachhinein unwirklich wie ein Traum vorkam.
    Heute war es kalt und karg, und der Zauber, der im Sommer über dem kleinen Fischerdörfchen von einst lag, war nur zu erahnen.
    Vesper betrachtete das

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