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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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das?«
    »Anders, als sie passiert sind.«
    Vesper hatte auch dazu genickt. Und eigentlich gar nichts verstanden.
    Am Ende war es auch egal gewesen. Sie war noch klein, und die Welt war ein schwereloser Planet voller wundersamer Dinge. Sie hatte einfach nur die Stimme ihrer großen Schwester genossen. Sie war wie eine Melodie gewesen, und sie hatte die Buchstaben aus den Büchern zu Magie und Abenteuer und Geheimnissen verflochten, hatte Paläste, dunkle Wälder, wilde Wölfe und gefahrvolle Stunden heraufbeschworen. Amalia hatte es sichtlich genossen,
ihrer kleinen Schwester vorzulesen - und das war es, woran sich Vesper auch heute noch erinnerte. Niemals hätte sie diese Stunden missen mögen.
    Amalia war acht Jahre alt, als sie Vesper vorzulesen begann. Und als Vesper zwölf geworden war, war Amalia bereits tot.
    Vesper seufzte.
    Warum musste sie ausgerechnet jetzt daran denken?
    All die letzten Jahre hatte sie sich solche Mühe gegeben, die Geschehnisse von damals zu vergessen. Jene Nacht, die sturmumtost und seltsam gewesen war.
    Man hatte einen Abschiedsbrief auf Amalias Schreibtisch gefunden, einen Zettel, der nicht einmal ein richtiger Brief war.
    Alles ist wahr, stand darauf geschrieben, sonst nichts.
    Vesper hatte ihre Eltern gefragt, was sie damit gemeint haben könnte. Doch beide wandten sich von ihrer jüngsten und nunmehr einzigen Tochter ab, ließen sich von ihrem eigenen Kummer ausweiden, sahen nur ihr eigenes Leid und einander schon gar nicht mehr - und sie vergaßen das andere Kind, das in der Stille seines Zimmers und der lauten Welt verkümmerte.
    Jetzt stand Vesper am Fenster und blickte nach draußen in die Nacht und fragte sich, wohin all die Jahre verschwunden waren.
    Als kleines Mädchen hatte sie geglaubt, niemals ohne ihre Schwester leben zu können, doch dann hatte sie feststellen müssen, dass Jahre vergehen können und man Dinge einfach vergisst und andere Dinge einfach verblassen,
ohne Grund, einfach so. Zurück blieb nur die Leere, die man manchmal spürte und meistens nicht, wenngleich sie nie ganz fort war, gerade dann nicht, wenn man glaubte, sie endlich überwunden zu haben.
    Vesper stellte sich das Gesicht ihrer großen Schwester an einem Novembertag wie diesem vor, und die Erinnerungen, das musste sie feststellen, taten noch immer so weh wie damals, als Amalias Grab zum ersten Mal frischen Schnee erblickt hatte.
    Nein, daran wollte sie nicht denken.
    Nicht jetzt, jedenfalls.
    Sie rief Ida an, die noch immer nicht ans Telefon ging.
    This is the beginning.
    Irgendwo da draußen war das Wolfsding, das sie verfolgt hatte. Das war es, worauf sie sich konzentrieren sollte.
    Da waren das Wolfsding und die Gestalt in dem Mantel.
    Noch immer konnte sie nicht sagen, ob die beiden womöglich ein und dieselbe Person waren.
    Sie betrachtete den Ring an ihrem Finger. In einem hellen Grün funkelte er im schattenhaften Halbdunkel des Hotelzimmers. Der Schlüssel steckte noch in ihrer Jacke.
    Sie suchte in ihrer Vergangenheit nach dem Namen Friedrich Coppelius und war sich sicher, ihn schon einmal gehört zu haben. Andererseits war das Leben ihrer Eltern voll seltsamer Berühmtheiten gewesen. Für Vesper waren sie alle nur Gesichter gewesen, kaum mehr. Gestalten
aus dem Kino und von der Bühne, zum Leben erwacht. Stars von den Filmplakaten im Arbeitszimmer ihres Vaters.
    Draußen war die Nacht wie die Finsternis in den Märchen. Da war mehr, als man erkennen konnte. Sie spürte es, und wie zum Trost berührte sie den Ring, der ihr zwar keine Antworten gab, aber glatt und schön anzuschauen und irgendwie beruhigend war.
    Erschöpft näherte Vesper sich rückwärts dem Bett.
    Die Schwerkraft wisperte ihr Erlösung ins Haar und nahm sie bei den Schultern.
    Vesper ließ sich einfach auf das Bett fallen. Sie lauschte ihrem Atem und folgte den Schattenspielen, die von den Nachtlichtern der Stadt an die Decke des kleinen Zimmers gemalt wurden. So lag sie regungslos da, und irgendwann übermannte sie die Erschöpfung. Sie zog die Beine an, rollte sich wie eine Katze zusammen und war zu müde zum Weinen.
    Die Schatten tanzten weiter über die Decke, und endlich schloss Vesper die Augen und schlief ein.
     
     
     
    Am Morgen berührte sie dieser Hauch von Unwirklichkeit, der einen immer dann sorgsam streift, wenn man in einem fremden Raum erwacht und sich in den ersten Augenblicken des Wachseins fragt, wo genau man denn wohl gestrandet ist.
    Das Telefon hatte sie unsanft geweckt. »Aufstehen,

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