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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Vesper-Baby«, begrüßte Mischa sie.

    »Hmpf«, murmelte sie nur, legte den Hörer auf und drehte sich um, wickelte die Decke um sich und seufzte lang. Schließlich streckte sie sich und blinzelte ins Zwielicht des Zimmers.
    Morgenmürrisch stand Vesper auf, betrachtete ihre Füße, die noch in den Strümpfen steckten. Wenn man in einem fremden Raum erwacht und feststellt, dass man die ganze Nacht in seinen Klamotten geschlafen hat, dann rückt die Welt noch ein Stück weiter zur Seite, und nicht einmal die zögerlichen Sonnenstrahlen können die Gewissheit verbergen, dass etwas im Leben aus der Bahn geraten ist.
    Vesper jedenfalls streifte alles ab, was sie am Leib trug, und schlüpfte unter die Dusche, wo sie so lange im rauschenden Dampf stehen blieb und das heiße Wasser über ihren Körper rinnen ließ, bis sie endlich das Gefühl hatte, auch die letzte Sekunde der vergangenen Stunden abgewaschen zu haben. Natürlich, das wusste sie, war dies kaum mehr als eine Illusion; dafür aber eine Illusion, der sie sich gern hinzugeben bereit war.
    Sie trat aus der Dusche, wischte Muster in den beschlagenen Spiegel, sodass sie ihre ungeschminkten, müden Augen erkennen konnte, und schließlich spürte sie die Geschwindigkeit langsam in ihr Leben zurückkehren. Sie schlüpfte in die Klamotten, betrachtete die kleinen Schiffe auf dem Fleet, kehrte ins Bad zurück, als sich der Dampf verzogen hatte, und schminkte sich lange und langsam - und fühlte sich dabei wie ein Ritter, der Stück um Stück seine schimmernde Rüstung anlegt, ohne die in die Schlacht zu ziehen ihm der Mut fehlt.

    Als Letztes streifte sie sich den grünen Ring über, betrachtete ihn, fühlte sich gut dabei.
    Dann stopfte sie alles, was auf dem Boden verstreut lag, in ihren Rucksack.
    Knapp zwei Stunden nach dem Aufwachen verließ sie das Hotelzimmer. Sie hatte den Geruch von Hotelkorridoren noch nie gemocht.
    »Du bist spät dran«, begrüßte sie Mischa, als sie unten ankam.
    »Danke für den Weckruf.« Sie gab ihm den Zimmerschlüssel zurück. »Danke. Für alles.« Sie lächelte und gab Mischa zum Abschied einen Kuss auf die Wange.
    »Es ist schon wieder passiert.«
    »Die Träume?«
    Er sah müde aus. »Laut den Nachrichten betrifft es nur Eltern, deren Kinder in den geheimnisvollen Minutenschlaf gefallen sind. Gruselig, was? Fast wie bei Dornröschen. Sie haben alle von einer Stimme geträumt. Derselben Stimme, wird behauptet. Mehr erfährt man aber nicht. Und Erklärungen gibt es bisher auch noch immer keine. Den ganzen Tag über kommen Sondersendungen.«
    »Seltsame Zeiten«, murmelte Vesper nur und schickte sich an zu gehen. Sie musste los, wenn sie den Zug erwischen wollte.
    »Pass auf dich auf«, sagte Mischa und fügte, irgendwie scherzhaft und irgendwie doch nicht, hinzu: »Und komm nicht vom rechten Wege ab.«
    Ein Schauder lief ihr über den Rücken, als er das sagte. »Keine Angst, ich bin ein großes Mädchen.« Sie schenkte
ihm ein wehmütiges Lächeln. Sie würde nicht vom rechten Wege abgekommen, denn das war es, was ihr eigentlich schon am gestrigen Tag passiert war. Wenn man einer Spur aus Rosenstaub folgte, dann geschah dies selten auf Pfaden, die man sicher beschreiten konnte. Wege wie dieser lagen immer tief in den Schatten, in dunklen Gefilden, in welche man sich nur mit schimmernder Rüstung und einem Schwert und verzweifeltem Mut vorzustoßen traute.
    Mit dieser Gewissheit verließ Vesper Gold an jenem Morgen das Hotel Zum Seepferdchen und trat in die kalte Winterluft hinaus.
    Sie fühlte sich einsamer als je zuvor.
     
     
     
    In der Nacht hatte sich eine feine Schneedecke über der Stadt ausgebreitet, und die Geräusche wie die Farben, waren gedämpft und ruhig. Das Leben wirkte erstarrt, und als Vesper das Hotel verließ, war die Sonne nur eine blasse Scheibe an einem Himmel aus Grautönen und Wolken. Sie fingerte ihren iPod aus der Tasche ihrer Lederjacke, wickelte den Schal noch enger um den Hals, suchte nach einem Lied, das sie in den nächsten Stunden begleiten konnte. Ja, sie neigte dazu, sich immer und immer wieder das gleiche Lied anzuhören, so lange, bis die Melodie an allen Gefühlen gezehrt hatte.
    Sie scrollte sich durch die Liste und fand schließlich Le jour le plus froid du monde von Dionysos.
    Zur glashell tragenden Melodie und dem klingenden Geräusch der zwischen den Stimmen verborgenen tickenden
Kuckucksuhr erwachte die Stadt träge zum Leben. Die Menschen strömten auf die Bushaltestellen und

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