Grimm - Roman
trotz allem. Nie und niemandem war zu trauen - war es nicht das, was ihr Vater ihr in dem Brief geraten hatte?
Hüte dich vor den Wölfen.
Und dem, was ihnen folgt.
So ging sie hinter Friedrich Coppelius durch die kleine Diele, an deren Wänden ein Spiegel und das große gerahmte Bild eines holländischen Windjammers hingen, in den angrenzenden Raum.
»Nehmen Sie Platz«, forderte Coppelius sie freundlich auf.
Vesper sah sich um.
Das Wohnzimmer war eine kunterbunte Ansammlung von teuer aussehenden Antiquitäten, die allesamt nicht wirklich zueinanderpassten. Einige der eleganten Möbelstücke glaubte Vesper noch aus alten deutschen Filmen zu kennen, aber das konnte täuschen.
Ein ovaler Schreibtisch beherrschte den Raum, davor stand ein kleiner runder Tisch mit zwei dunklen Sesseln, dahinter eine seltsam geformte Stehlampe mit futuristisch anmutendem Schirm.
»Haben Sie Metropolis gesehen?«
Vesper nickte. »Ist schon etwas her.« Eigentlich erinnerte sie sich eher an die Bilder in den Schaukästen des
Kinos, das nicht weit entfernt gewesen war von ihrem Elternhaus in Berlin.
»Das ist der Tisch, an dem Alfred Abel und Gustav Fröhlich standen.«
Vesper nickte höflich. Sie konnte sich nur dunkel an die Szene in dem grauen Wolkenkratzer der Oberstadt erinnern.
»Ah, und diese Uhr stammt aus Venedig.«
Sie bewunderte die gigantische Standuhr hinter dem Schreibtisch.
»Haben Sie jemals zuvor eine so große Uhr gesehen?« Sie schüttelte den Kopf.
Der Körper der Standuhr war breit wie ein kleiner Schrank, doch wirkte er in keiner Weise massig und plump. Die Standuhr war ein filigraner Riese aus alter Zeit, elegant und Ehrfurcht gebietend. Da war ein riesiges güldenes Ziffernblatt mit einer Vielzahl von eingravierten Tieren und Fabelwesen; dazu das mächtige Pendel, das majestätisch im Takt schwang.
»Sie ist sehr schön«, gestand Vesper.
Friedrich Coppelius nickte geistesabwesend.
»Warum sind Sie hergekommen?«, fragte er. »Hat Maxime Sie geschickt?«
An der Wand hing der Kunstdruck des Bildes, das auch ihr Vater so gemocht hatte.
Das Eismeer.
Konnte es ein Zufall sein, dass sie auch hier auf dieses Bild stieß? Hatte das Gemälde eine besondere Bedeutung? Oder bildete sie sich das alles nur ein, suchte sie Zusammenhänge, wo in Wirklichkeit keine waren?
»Ich bekam gestern einen Brief«, gestand sie, »den er schon vor einiger Zeit geschrieben haben muss.«
»Im Falle seines Todes sollten Sie mich aufsuchen?«
Sie nickte. Erwähnte den Notar und den Hinweis auf die Anschrift hier in Blankenese.
»Hat er Sie vor den Wölfen gewarnt?«
»Ja«, sagte sie hastig. »Was wissen Sie darüber?«
»Viel«, antwortete er, »aber leider nicht genug. Ja, leider, leider nicht genug. Unsere Generation ist nie mit ihnen in Berührung gekommen, nicht wirklich. Wir haben nur die Geschichten gehört und die Dokumente gelesen, das war alles. Es ist sehr, sehr lange her, dass die Gesellschaft sich mit dieser üblen Plage auseinandersetzen musste und zum Kampf ausgezogen ist.«
Vesper hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
»Die Gesellschaft?«
Coppelius atmete tief durch, faltete die Hände. »Ich werde Ihnen wohl alles von vorn erklären müssen.« Er seufzte. »Ich habe es befürchtet, als ich vom Tod Ihres Vaters in der Zeitung las. Und dann erhielt auch ich einen Brief, den womöglich derselbe Notar abgeschickt hat, der Sie über mich in Kenntnis setzte.«
»Ein Brief von meinem Vater?«
»Er kündigte Ihr Kommen an und bat mich, Sie in alles einzuweihen.«
Vesper starrte ihn nur verständnislos an. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Das dachte ich mir schon, ja, das dachte ich mir«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand durch das wallende
greise Haar. »Ich muss aber von vorn beginnen, so schnell, ja, ganz so schnell geht das alles nicht.« Er sinnierte, Unverständliches grummelnd, und stellte sodann fest: »Es ist doch bestimmt nichts gegen einen Tee einzuwenden, oder?!«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Tee ist gut.«
»Es ist so kalt da draußen, und Sie sehen ganz durchgefroren aus. Ja, ein Tee kann wahre Wunder bewirken.« Ohne eine Reaktion Vespers abzuwarten, lief er aus dem Raum, und sie hörte ihn nebenan mit Tassen und Löffeln klappern, dann lief Wasser aus einem Hahn, und ein Kessel wurde geräuschvoll auf eine Herdplatte gestellt.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass im Hintergrund ein Lied von Zarah Leander lief.
Der Wind hat mir ein Lied erzählt.
Vesper kannte es,
Weitere Kostenlose Bücher