Grimms Erben
weiter, vorsichtig und leise. Und stieß auf eine Schachtel, in der sich acht leere Gläser befanden.
Aus einem davon und einem Kerzenrest fabrizierte Ignaz eine Lampe. Wohliges Licht erhellte den Kellerteil. Warmes Licht, das Ignaz folgende Erkenntnis brachte: Er war in einem stinknormalem Keller. Vor ihm eine Schachtel mit stinknormalen Gläsern mit stinknormalen Schraubverschlüssen. Moment, eins schimmerte im Kerzenlicht stinknormal bernsteinfarben. Wie Gold. Ein goldener Glasboden. Ignaz riss das Glas an sich und bohrte sein Auge durch das Glas. Sofort spürte er ein Bitzeln auf seiner Zunge. Er drehte wild an dem Verschluss und ein süßlicher Geruch dampfte in seine Nase. Honig! Nicht viel, aber auch nicht nichts. Ein Einweckglas mit Honig ausgelegt. Honigboden. Einen halben Zentimeter dickes Bienenerzeugnis. Er bohrte mit Zeige- und Mittelfinger in den Topf aus Gold und strich sich die Paste in den Mund.
Erlösung!
Die Süßigkeit bot seinem ausgemergelten Körper eine Delikatesse, die ihm triefend in den Mundwinkeln hing. Er wurde zum x-ten Mal zum Dieb.
Ihm war das egal, das Leben geht vor. Vor allem, nachdem man wie ein Tier durch die Straßen gehetzt wurde, nur weil man sich etwas ausborgen wollte. Eine Suppe zum Beispiel. Na gut, für immer ausgeborgt hatte. Hunger und Durst lassen einen oftmals Höflichkeit und Anstand vergessen. Sonst klopft der Tod an die Türe.
Passend dazu: Ignaz’ letzte Geschichte. In seinem Büchlein stand ein Märchen namens »Gebrüder Hunger und Durst«. Es las sich wie folgt:
Gebrüder Hunger und Durst
VERWUNDERLICH, ABER DOCH
_________________________________
Es war einmal ein unverbesserliches Bruderpaar namens Trimm und Tortl.
Das Leben war ihnen ein Spielfeld aus Schabernack. Streiche, Scherze und Narreteien standen an der Tagesordnung, und die Bewohner der abgeschiedenen Stadt Weithinterheim hatten regelrecht Angst vor ihrem Irrsinn. Die beiden Brüder trieben die Leute an den Rand des Wahnsinns, hier fehlten Instrumente, dort fiel etwas den Schwänken zum Opfer, viel Zeit vertat man damit, zu säubern und zu reparieren, was ihre Schandtaten in Mitleidenschaft zog. Was blieb, war Aufwand, Ärger und Kosten. Eines Tages aber übertrieben sie ihre Albernheiten. Sie kippten blauen Farbstoff in die Wasservorratsbehälter und zerstörten die gesamte Wasserversorgung der Stadt. Ebenso bemalten sie alle Lebensmittel in der Stadtvorratskammer blau. Und damit ihr Spaß noch zunahm, vermischten sie den Farbstoff mit verdorbenen Eiern und Mist, ja herrlich, wenn Wasser und Brot so richtig stinken. Dass sie damit Unheil anrichteten, war ihnen wie immer völlig gleichgültig. Noch als sie, hinter ihren Fässern versteckt, Leute über dieses dumme Bubenstück schimpfen sahen, litten die ersten Menschen, die von der verdorbenen Nahrung oder dem vergifteten Wasser nicht nehmen konnten, Hunger und Durst.
Neue Nahrungsmittel konnten in Weithinterheim auf die Schnelle nicht produziert werden.
Die Menschen blickten machtlos der sich ausbreitenden Not entgegen, und über allem hing das heisere Lachen von Trimm und Tortl. Hunger und Durst wurden zur Qual. Die ersten Menschen starben. Erst die Alten und Gebrechlichen, dann die Kinder. Auswärts konnte keine Hilfe angefordert werden, die nächsten Nachbarn lebten Dutzende Tagesmärsche entfernt. Weithinterheim taumelte einer Katastrophe entgegen.
Trimm und Tortl, die sich etwas genießbares Wasser und Brot beiseitegelegt hatten, konnten dem traurigen Schauspiel keine Freude mehr abgewinnen. Wem sollten sie denn noch Streiche spielen — alle verhungerten oder verdursteten. Achselzuckend machten sie sich mit ihrem Proviant auf den Weg in die nächste Stadt.
Am fünften Tag lagerten sie im tiefen Wald. Am Feuer aßen sie Teile ihrer schon dezimierten Nahrung und schluckten gierig aus dem Wasserschlauch. Da gesellten sich zwei Gestalten zu ihnen. Ob man sich dazusetzen dürfte, fragten sie. Trimm und Tortl war es recht, vielleicht würden sie eine Zielscheibe für einen ihrer Streiche abgeben. Sie plauderten, und Trimm und Tortl erzählten, dass sie Brüder sind und von Weithinterheim stammen. Die beiden Besucher erklärten, sie wären auch Brüder und ebenfalls gerade in Weithinterheim gewesen. Aber komisch, man habe sich nicht getroffen. Nur Leichen wären dort gewesen. Trimm und Tortl lachten.
In der Nacht litten Trimm und Tortl plötzlich starken Hunger, und sie verschlangen ihre mitgeführte Nahrung. Am Morgen begaben sich die
Weitere Kostenlose Bücher