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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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TEIL EINS
DIE VERMALEDEITE FLUCHT
    IN DAS SICH SELBSTÄNDIG VERKLEINERNDE LABYRINTH DER STERNENTRÄGER
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    Der Sprinter im Labyrinth
    Warschau 1943
    Es war einmal ein Sprinter, der rannte wie ein gehetztes Tier durch verwinkelte Gassen. Wie ein Reh sprang er über Tonnen, Fässer, Fahrräder und Mauerwerke, die sich urplötzlich vor ihm auftaten und wie von Geisterhand seinen Fluchtweg versperrten. Im nächsten Moment stolperte er wie ein Betrunkener durch freie Straßen. Er war auf der Flucht – und eine Meute wild gewordener Bestien war hinter ihm her.
    Das Ohr vermittelte Geräusche. Schritte, Rufe, Kratzen über Asphalt, Hundegebell, ein Rauschen, Flüche und tatsächlich: Schüsse.
    Er erhöhte noch einmal die zyklische Frequenz seines Spurtes. Viel Kraft hatte er nicht mehr. Seine Beine meldeten Müdigkeit und taten ihre Dienste aus nur einem Grund:
    Angst.
    »Schneller, noch schneller!«, schrie es in ihm. Die Arme holten weiter aus und vermochten durch ihre ausschweifenden Bewegungen den mittlerweile schwankenden Körper nach vorne zu ziehen. Schon längst war er sich nicht mehr im Klaren, wo er war, vor allem aber, und das erschreckte ihn: wohin er wollte. Falsch. Wohin er musste. Der Schweiß in den Augen brannte und schälte die Bilder einzeln von der Netzhaut, die nur noch Schemen und Schatten erkannte. Die einsetzende Dämmerung wurde zu seinem Verbündeten.
    Eine Gasse, eine gepflasterte Straße, Torbögen. Wieder eine Kreuzung. Links, hier links, wieder in eine dunkle Gasse. Weg von den Straßenlaternen, die wie stechende Blitzlichtflaggen auf metallenen Fahnenstangen wehten.
    Er lief zitternd und planlos durch die hallenden Straßen. Er ermahnte sich, leise zu laufen. Das war Wunschdenken. Ein Ertrinkender schwimmt ums Überleben. Ein Fliehender rennt eben, dass die Sohlen brennen. Er kann ja nicht ums Überleben schleichen.
    Sein sich überschlagendes Herz pumpte saures Blut durch die Bahnen, während schwarze Fenster wie tote Augen an ihm vorbeirauschten. Falls er das überlebte, würde ein Muskelkater bleiben.Trotz dieser in diesem Moment unpassenden Erkenntnis trieben ihn seine Beine mechanisch nach vorne. Seine Lunge brannte entsetzlich.
    Er sollte tiefer atmen.
    Ende. Es gab keinen Ausweg. Das war fatal – hatte aber auch sein Gutes. Das Schicksal, das ihn nun kotzend vor Anstrengung in einer kleinen Sackgasse zum Stillstand hatte kommen lassen, forderte sein Denken ein. Zurück war unmöglich, das Geheul der Meute schob ihn gegen das, wovor er nun ungläubig und dem Zusammenbruch nahe kauerte. Eine Mauer. Auf den ersten Blick unüberwindbar. Eingefasst von zwei fensterlosen Hausmauern, die einige durch abgefallenen Putz heraustretende Backsteine zum Vorschein brachten. Diese freigelegten Mauerwerke wirkten wie ein süffisantes Grinsen, wie der vorweggenommene Triumph der Sieger. Sogar die Häuser waren ihm feind.
    Im Nacken polterten die Stimmen seiner Verfolger. Der Verfolger aus Fleisch, Blut, Stahl und Schießeisen. Hier also endete sein Leben. An einer schmucklosen Wand, die sich irgendein Baureferat hatte einfallen lassen, oder ein Eigentümer, um den Besitz zu markieren. Er griff in den Kartoffelsack, den er mit sich führte, und überlegte fieberhaft ein paar letzte Worte. Seine Finger kratzten über den bereits aufquellenden Kartonumschlag des mitgeführten Büchleins. Ein größeres Notizbuch vielmehr. Eigentlich waren es zwei. Das eine war vollgeschrieben. Massenhaft Geschichten darin. Das zweite bot noch genügend Platz. Die Bücher waren sein ganzer Besitz, sein Heiligtum, seine Erfindung – jede einzelne Geschichte ein Teil von ihm und sein eigentlicher Lebenszweck. Seine Hand tastete suchend im Inneren des abgewetzten Leinensacks und fühlte nach einem der drei gestohlenen Bleistifte.
    Sein Brustkorb hob und senkte sich wie der Kolben eines mechanischen Antriebs, und er überlegte, ob er auf ein leeres Blatt Papier folgende Abschiedssätze schreiben sollte:
    Mein Name ist Ignaz Buchmann.
    Mein Leben endet nicht gerade märchenhaft an einer Mauer an diesem Herbsttag im Jahre 43. Meine liebsten Menschen, vor allem meinen Bruder, drücke und küsse ich hiermit bis in alle Ewigkeit.
    Meinen letzten Verfolgern erkläre ich feierlich: Ihr habt mich wohl erwischt, aber das, wofür ihr mich jagtet, habt ihr nicht bekommen. Meine Gedanken.
    Worte werden den totalen Sieg erringen. Klingt seltsam, ist aber so.
    Immer weiter,
    Ignaz Buchmann
    Er tat es mal

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