Grimms Erben
vorsichtshalber, riss das Blatt aber nicht aus seinem Buch. Zitternd steckte er es zurück in den Sack. Den Bleistift in die Hosentasche. Er zog seine den Bleistift nicht mehr umklammernde Hand aus der Hosentasche und schätzte anhand des sich stetig nähernden Rumorens seine ihm verbleibende Zeit ein. Ja, es bliebe noch Zeit, um sich zu übergeben. Er tat es. Schade um die Suppe, die er sich vor einer Stunde ohne zu bezahlen »genehmigt« hatte. Sie erst hatte ihm diese Meute an den Kragen gehetzt, die sich aus Jägern verschiedenster Interessen zusammensetzte.
»Haltet den Dieb!« Wie oft er diesen Satz gehört hatte.
Mit dem Ärmel wischte er sich den Mund ab. Schwungvoll schleuderte er den Kartoffelsack über die Mauer. Er ging einige Meter rückwärts und fixierte das Hindernis, das sich vor ihm aufbaute, das er zu überwinden gedachte. Im Rachen brannte refluxierte Magensäure. Er lief los.
Der erste Schritt war explosiv und reichte aus, um sich mit dem anderen Bein, es war das rechte, auf die hochkant an der Mauer lehnende Holzkiste zu befördern, von der er ebenso kraftvoll und parallel zur Wand auf eine Tonne sprang, um sich wiederum mit dem rechten Bein abstoßend nach oben zu schrauben. Geschmeidig wie ein Panther. Eine intramuskuläre Ästhetik der flüchtenden Bewegung. Katzengleich. Buchmanngleich, dachte er nicht ohne Stolz.
Seine Finger erreichten den Sims der Mauer. Sie griffen massiv in den aufgeplatzten Putz und fanden Halt. Einen Halt, der Ignaz’ganzen Körper in der Schwebe hielt, nur kurz. Denn es beugten sich die Arme. Einem Flaschenzug gleich, brachte er das Gewicht seines Körpers gleichmäßig nach oben. Ellbogen stützten sich nun auf die obere Kante, doch Vorsicht, ein aufgedrehter Stacheldraht schlängelte sich auf der Mauer von Hauswand links zu Hauswand rechts. Ein scheußliches Wolfsgeheul drang an sein Ohr. Inmitten der Vorwärtsbewegung spürte er eine enorme Last, ein Gewicht, das nun entgegen seiner Willensrichtung zerrte. Er dachte zuerst, es wäre Todesangst, die ihn lähmte. Aber als er nach unten sah, vernahm er den wütenden Blick eines Schäferhundes. Spürte sein scharfes Gebiss, das sich mühelos durch das Leder in Richtung seiner Mittelfußwurzeln vorarbeitete.
»Verzieh dich, du Todeshund.« Ein freudscher Versprecher, aber immerhin zeigte er zusammen mit dem Fußtritt seines freien Beines Wirkung. Das Zerren hatte ein Ende. Nun wirkte die Arbeit der sich verkürzenden Armmuskulatur wie Butterbrotstreichen. Ignaz kauerte oben angekommen keuchend zwischen den Zähnen des Stacheldrahtes. Er hörte rasche Schritte über das Pflaster hetzen. Kchkch – Kchkch – Kchkch – … Sein rasendes Herz sprach zu ihm.
»Tief atmen.«
Der Köter sah mit wütenden Augen, mit knurrendem Getöse und einem Lederstiefel im Maul zu ihm hoch. Er blickte auf den Hund zurück, und wenn sich zwei Dinge in die Augen blicken – trotz Dunkelheit – dann bleibt die Zeit stehen – einen Augenblick lang.
Dann weitere Augenpaare, die um die Ecke schossen. Hundsaugen, Menschenaugen, Wolfsaugen, Bestienaugen. Und Augen eines Gewehrlaufes.
Ignaz warf sich, das Leben sollte nach dieser spektakulären Flucht nun doch gerettet werden, ohne Rücksicht auf Schmerzen und Blessuren, von dem mit Stacheldraht bezäunten Mauersims. Pfeifend strich eine Kugel unreligiös – von wegen »Du sollst nicht töten« – an Ignaz’ Unterschenkel vorbei und war so frei, die Haut oberflächlich aufzuritzen. Mehr Schaden war der Kugel nicht vergönnt. Pech gehabt, diesbezüglich. Aus Kugels Sicht.
Ignaz hinterließ den Verfolgern einen mutigen Eindruck und ein Dutzend Stofffetzen in den Stacheln des Zauns, die den verblüfften Männern samt ihrer Spürhunde das Ende der Jagd beschämend vor Augen führten.
Einen Eid im Genick
Der Aufprall war weniger schmerzhaft, als Ignaz’ Sturz als Elfjähriger vom Flachdach des Fleischereibetriebs Blüml, durch dessen Rauchabzug er Dampfwürste zu stehlen erhofft hatte. Das Vorhaben stellte sich als Trugschluss heraus, aber Herr Waldemar Blüml erwischte den Ignaz-Balg und seinen vier Jahre älteren Bruder Zacharias, genannt Aki, auf dem Dach mit provisorischen Angeln in den Händen – Wilhelm Busch lässt grüßen – als er selbst dort oben in der Mittagspause mit der Verkaufsangestellten Rosa Münzinger Nettigkeiten austauschen wollte. Eben zu diesem Austausch hatte die als stets freundlich geltende Angestellte ihre Korsage gelockert, ja gänzlich entflochten,
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