Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
wollen, hat aber ihr eigenes Kind getroffen. Kommt der Tag, und sie sieht, was sie getan hat, so sind wir verloren.« – »Aber ich rate dir«, sagte Roland, »daß du erst ihren Zauberstab wegnimmst, sonst können wir uns nicht retten, wenn sie uns nachsetzt und verfolgt.« Das Mädchen holte den Zauberstab, und dann nahm es den toten Kopf und tröpfelte drei Blutstropfen auf die Erde, einen vors Bett, einen in die Küche und einen auf die Treppe. Darauf eilte es mit seinem Liebsten fort.
Als nun am Morgen die alte Hexe aufgestanden war, rief sie ihre Tochter und wollte ihr die Schürze geben, aber sie kam nicht. Da rief sie: »Wo bist du?« – »Ei, hier auf der Treppe, da kehr ich«, antwortete der eine Blutstropfen. Die Alte ging hinaus, sah aber niemand auf der Treppe und rief abermals: »Wo bist du?« – »Ei, hier in der Küche, da wärm ich mich«, rief der zweite Blutstropfen. Sie ging in die Küche, aber sie fand niemand. Da rief sie noch einmal: »Wo bist du?« – »Ach, hier im Bette, da schlaf ich«, rief der dritte Blutstropfen. Sie ging in die Kammer ans Bett. Was sah sie da? Ihr eigenes Kind, das in seinem Blute schwamm und dem sie selbst den Kopf abgehauen hatte.
Die Hexe geriet in Wut, sprang ans Fenster, und da sie weit in die Welt schauen konnte, erblickte sie ihre Stieftochter, die mit ihrem Liebsten Roland forteilte. »Das soll euch nichts helfen«, rief sie, »wenn ihr auch schon weit weg seid, ihr entflieht mir doch nicht.« Sie zog ihre Meilenstiefel an, in welchen sie mit jedem Schritt eine Stunde machte, und es dauerte nicht lange, so hatte sie beide eingeholt.
Das Mädchen aber, wie es die Alte daherschreiten sah, verwandelte mit dem Zauberstab seinen Liebsten Roland in einen See, sich selbst aber in eine Ente, die mitten auf dem See schwamm. Die Hexe stellte sich ans Ufer, warf Brotbrocken hinein und gab sich alle Mühe, die Ente herbeizulocken; aber die Ente ließ sich nicht locken, und die Alte mußte abends unverrichteter Sache wieder umkehren.
Darauf nahm das Mädchen mit seinem Liebsten Roland wieder die natürliche Gestalt an, und sie gingen die ganze Nacht weiter bis zu Tagesanbruch. Da verwandelte sich das Mädchen in eine schöne Blume, die mitten in einer Dornenhecke stand, seinen Liebsten Roland aber in einen Geigenspieler. Nicht lange, so kam die Hexe herangeschritten und sprach zu dem Spielmann »Lieber Spielmann, darf ich mir wohl die schöne Blume abbrechen?« – »O ja«, antwortete er, »ich will dazu aufspielen.«
Als sie nun mit Hast in die Hecke kroch und die Blume brechen wollte, denn sie wußte wohl, wer die Blume war, so fing er an aufzuspielen, und, sie mochte wollen oder nicht, sie mußte tanzen, denn es war ein Zaubertanz. Je schneller er spielte, desto gewaltigere Sprünge mußte sie machen, und die Dornen rissen ihr die Kleider vom Leibe, stachen sie blutig und wund, und da er nicht aufhörte, mußte sie so lange tanzen, bis sie tot liegenblieb.
Als sie nun erlöst waren, sprach Roland: »Nun will ich zu meinem Vater gehen und die Hochzeit bestellen.« – »So will ich derweil hierbleiben«, sagte das Mädchen, »und auf dich warten, und damit mich niemand erkennt, will ich mich in einen roten Feldstein verwandeln.« Da ging Roland fort, und das Mädchen stand als ein roter Stein auf dem Felde und wartete auf seinen Liebsten. Als Roland heimkam, geriet er in die Fallstricke einer anderen, die es dahin brachte, daß er das Mädchen vergaß. Das arme Mädchen stand lange Zeit, als er aber endlich gar nicht wiederkam, so ward es traurig und verwandelte sich in eine Blume und dachte: Es wird ja wohl einer kommen und mich umtreten.
Es trug sich aber zu, daß ein Schäfer auf dem Felde seine Schafe hütete und die Blume sah, und weil sie so schön war, so brach er sie ab, nahm sie mit sich und legte sie in seinen Kasten. Von der Zeit ging es wunderlich in des Schäfers Haus zu. Wenn er morgens aufstand, so war schon alle Arbeit getan: die Stube war gekehrt, Tisch und Bänke abgeputzt, Feuer auf dem Herd gemacht und Wasser getragen; und mittags, wenn er heimkam, war der Tisch gedeckt und ein gutes Essen aufgetragen.
Er konnte nicht begreifen, wie das zuging, denn er sah niemals einen Menschen in seinem Haus, und es konnte sich auch niemand in der kleinen Hütte versteckt haben. Die gute Aufwartung gefiel ihm freilich, aber zuletzt ward ihm doch angst, so daß er zu einer weisen Frau ging und sie um Rat fragte. Die weise
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