Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
der Hase schon da. »Kann es losgehen?«, sagte der Hase. »Jawohl«, sagte der Igel. »Dann also los!«
Und damit stellte sich jeder in seine Furche. Der Hase zählte: »Eins, zwei, drei!« und los ging es wie ein Sturmwind den Acker hinunter. Der Igel aber lief nur ungefähr drei Schritte, dann duckte er sich in die Furche und blieb ruhig sitzen.
Als nun der Hase in vollem Lauf unten am Acker ankam, rief ihm dem Igel seine Frau entgegen: »Ich bin schon hier!«
Der Hase stutzte und verwunderte sich nicht wenig: er meinte nicht anders, als wäre es der Igel selbst, der ihm zurief, denn bekanntlich sieht dem Igel seine Frau just so aus wie ihr Mann. Der Hase aber meinte: »Das geht nicht mit rechten Dingen zu.«
Er rief: »Noch mal gelaufen, wieder rum!«
Und fort ging er wieder wie ein Sturmwind, dass ihm die Ohren um den Kopf flogen. Dem Igel seine Frau aber blieb ruhig auf ihrem Platz stehen. Als nun der Hase oben ankam, rief ihm der Igel entgegen: »Ich bin schon hier!«
Der Hase aber, ganz außer sich vor Ärger, schrie: »Noch einmal gelaufen, wieder rum!«
»Mir macht das nichts«, antwortete der Igel, »meinetwegen, sooft du Lust hast.«
So lief der Hase noch dreiundsiebzig Mal, und der Igel hielt es immer mit ihm aus. Jedes Mal, wenn der Hase unten oder oben ankam, sagte der Igel oder seine Frau: »Ich bin schon hier.«
Beim vierundsiebzigsten Male aber kam der Hase nicht mehr bis ans Ende. Mitten auf dem Acker stürzte er zur Erde, das Blut schoss ihm aus dem Halse, und er blieb tot auf dem Platze. Der Igel aber nahm seine gewonnene Goldmünze und die Buddel Branntwein, rief seine Frau aus der Furche ab, und beide gingen vergnügt miteinander nach Hause: und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch.
So begab es sich, dass auf der Buxtehuder Heide der Igel den Hasen totlief, und seit jener Zeit hat es sich kein Hase wieder einfallen lassen, mit dem Buxtehuder Igel um die Wette zu laufen.
Die Lehre aber aus dieser Geschichte ist erstens, dass keiner, und wenn er sich auch noch so vornehm dünkt, sich über einen geringen Mann lustig mache, und wenn es auch nur ein Igel wäre. Und zweitens, dass es geraten ist, wenn einer freit, dass er sich eine Frau aus seinem Stande nimmt, die geradeso aussieht wie er selber. Wer also ein Igel ist, der muss zusehen, dass seine Frau auch ein Igel ist, und so weiter.
Spindel, Weberschiffchen und Nadel
E s war einmal ein Mädchen, dem starb Vater und Mutter, als es noch ein kleines Kind war. Am Ende des Dorfes wohnte in einem Häuschen ganz allein seine Pate, die sich von Spinnen, Weben und Nähen ernährte. Die Alte nahm das verlassene Kind zu sich, hielt es zur Arbeit an und erzog es in aller Frömmigkeit.
Als das Mädchen fünfzehn Jahr alt war, erkrankte sie, rief das Kind an ihr Bett und sagte: »Liebe Tochter, ich fühle, daß mein Ende herannaht; ich hinterlasse dir das Häuschen, darin bist du vor Wind und Wetter geschützt, dazu Spindel, Weberschiffchen und Nadel, damit kannst du dir dein Brot verdienen.«
Sie legte noch die Hände auf seinen Kopf, segnete es und sprach: »Behalt nur Gott in dem Herzen, so wird dies wohlergehen.«
Darauf schloß sie die Augen, und als sie zur Erde bestattet wurde, ging das Mädchen bitterlich weinend hinter dem Sarg und erwies ihr die letzte Ehre.
Das Mädchen lebte nun in dem kleinen Haus ganz allein, war fleißig, spann, webte und nähte, und auf allem, was es tat, ruhte der Segen der guten Alten. Es war, als ob sich der Flachs in der Kammer von selbst mehrte, und wenn sie ein Stück Tuch oder einen Teppich gewebt oder ein Hemd genäht hatte, so fand sich gleich ein Käufer, der es reichlich bezahlte, so daß sie keine Not empfand und andern noch etwas mitteilen konnte.
Um diese Zeit zog der Sohn des Königs im Land umher und wollte sich eine Braut suchen. Eine arme sollte er nicht wählen, und eine reiche wollte er nicht. Da sprach er: »Die soll meine Frau werden, die zugleich die Ärmste und die Reichste ist.«
Als er in das Dorf kam, wo das Mädchen lebte, fragte er, wie er überall tat, wer in dem Ort die Reichste und die Ärmste wäre. Sie nannten ihm die Reichste zuerst; die Ärmste, sagten sie, wäre das Mädchen, das in dem kleinen Haus ganz am Ende wohnte. Die Reiche saß vor der Haustür in vollem Putz, und als der Königssohn sich näherte, stand sie auf, ging ihm entgegen und neigte sich vor ihm. Er sah sie an,
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