Grimwood, Ken - Replay
Erinnerungen von denen zu trennen, die unzweifelhaft zutreffend waren.
Er brauchte unbedingt etwas Schlaf, um all dies für eine Weile los zu sein und vielleicht, wider aller Hoffnung, in der Welt zu erwachen, die er verlassen hatte. Am liebsten gewesen wäre ihm ein anonymes, zeitloses Hotelzimmer, ohne Blick auf die veränderte Skyline, ohne daß ihn Radio oder Fernsehen an das erinnerten, was geschehen war; doch er hatte nicht genug Geld, und natürlich besaß er keine Kreditkarten. Knapp davor, im Piedmont Park zu schlafen, hatte Jeff keine andere Wahl, als nach Emory und zu dem Zimmer im Wohnheim zurückzukehren. Vielleicht würde Martin eingeschlafen sein.
Er war es nicht. Jeffs Zimmergenosse war hellwach, saß an seinem Schreibtisch und blätterte in einem Exemplar von High Fidelity. Er blickte kühl auf und legte das Magazin weg, als Jeff das Zimmer betrat.
»Aha«, sagte Martin. »Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?« »In der Stadt. Bin rumgelaufen.«
»Du konntest keine Zeit erübrigen, um mal bei Dooley’s vorbeizuschauen, was? Oder vielleicht sogar am Fox Theatre? Wir hätten beim Warten auf dich beinahe den ersten Teil des gottverdammten Films verpaßt.«
»Tut mir leid, mir… äh… war nicht danach. Nicht heute.«
»Du hättest mir wenigstens eine Nachricht hinterlassen können oder so, verdammt noch mal. Du hast nicht einmal Judy angerufen, um Himmels willen. Sie war am Durchdrehen vor Sorge, was dir zugestoßen sein könnte.«
»Ich bin echt kaputt, hörst du. Mir ist nicht besonders nach Reden zumute, okay?«
Martin lachte humorlos. »Morgen ist dir besser wieder danach, wenn du Judy wiedersehen willst. Sie wird stocksauer sind, wenn sie herausfindet, daß du noch lebst.«
Jeff träumte vom Sterben, und als er aufwachte, befand er sich immer noch im Zimmer des Collegewohnheims. Nichts hatte sich verändert. Martin war weg, wahrscheinlich in einer Vorlesung; doch es war Samstagmorgen, erinnerte sich Jeff. Hatte es am Samstag Vorlesungen gegeben? Er war sich nicht sicher.
Jedenfalls war er allein im Zimmer, und er nutzte den Vorteil des Alleinseins, um in seinem Schreibtisch und seinem Schrank herumzustöbern. Die Bücher waren ihm alle vertraut: Störungssicher, Die Erschaffung des Präsidenten – 1960, Reisen mit Charley. Die Schallplatten in ihren neuen, unverblaßten und ungeknickten Hüllen beschworen Hunderte von zahllosen Gefühlen begleitete Bilder aus den Tagen und Nächten herauf, die er mit dem Hören dieser Musik zugebracht hatte: Stan Getz und Joao Gilberto, das Kingston Trio, Jimmy Witherspoon, Dutzende andere, von denen er die meisten schon lange verloren oder ruiniert hatte.
Jeff stellte das Harman Kardon-Stereogerät an, das ihm seine Eltern zu Weihnachten geschenkt hatten, legte ›Desafinado‹ auf und wühlte weiter in den Besitztümern seiner Jugend: mit h.i.s.-Hosen mit Umschlag und Botany 500-Sportjacken behängte Kleiderbügel, eine Tennistrophäe von dem Internat außerhalb von Richmond, das er vor Emory besucht hatte, eine in Seidenpapier eingewickelte Sammlung von Hurricane-Gläsern aus dem Pat O’Briens in New Orleans, ordentliche Stapel Playboy und Rogue.
Er entdeckte eine Schachtel mit Briefen und Fotografien, zog sie heraus und setzte sich aufs Bett, um den Inhalt durchzusehen. Da gab es Bilder von ihm als Kind, Schnappschüsse von Mädchen, an die er sich nicht mehr erinnerte, ein paar unsägliche Paßfotos… und eine kleine Mappe mit Familienfotos, seine Mutter und sein Vater und die jüngere Schwester bei einem Picknick, an einem Strand, um einen Weihnachtsbaum versammelt.
Spontan holte er eine Handvoll Wechselgeld aus seiner Tasche, fand das Münztelefon auf dem Korridor und erkundigte sich bei der Auskunft in Orlando nach der langvergessenen alten Nummer seiner Eltern.
»Hallo?« sagte seine Mutter in dem zerstreuten Tonfall, der im Laufe der Jahre deutlicher geworden war.
»Mutter?« sagte er zögernd.
»Jeff!« Ihre Stimme war einen Moment lang gedämpft, als sie sich von der Sprechmuschel abwandte. »Liebling, heb in der Küche ab. Es ist Jeff!« Dann, wieder klar und deutlich: »Also, was soll denn dieses ›Mutter‹? Du glaubst wohl, du wirst allmählich zu alt, um mich ›Mom‹ zu nennen, ist es das?«
Er hatte seine Mutter seit seinen frühen Zwanzigern nicht mehr so genannt.
»Wie… wie geht es dir?« fragte er.
»Nicht mehr so wie früher, seit du weg bist, das weißt du ja; aber wir halten uns auf Trab. Letzte Woche waren wir in
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