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Grippe

Grippe

Titel: Grippe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wayne Simmons.original
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ändern.
    Er fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis auch er sich infizierte. Wenn es passierte, würde ihm niemand in den Kopf schießen. Es erschien ihm so hoffnungslos, dass er sich gerne sofort selbst gerichtet hätte. Doch er hatte einem Sterbenden ein Versprechen gegeben, und das bedeutete gerade jetzt mehr denn je. Er fand, dass man auf dieser Welt, nun da der Tod allein das Heft übernommen hatte, denjenigen noch mehr Respekt zollen sollte, die verblichen waren.
    Er blickte auf die Zeit zurück, als er gerade bei der Polizei angefangen hatte und als erster am Tatort einer blindwütigen Schießerei eingetroffen war. Anders als sonst in Belfast lag kein religiöses Motiv vor; eine Kneipenschlägerei war aus den Fugen geraten, als sich eine Partei verzogen hatte und am Ende mit der Schrotflinte von zuhause zurückgekehrt war. Der Täter besaß sogar einen Waffenschein, was George damals nicht begreifen konnte.
    Er wurde in der Spätschicht angerufen, kurz nach ein Uhr nachts, und kam sogar noch vor dem Krankenwagen vor Ort an. Ein Mann lag auf der Straße, der andere stand stumm mit der Waffe daneben. Weitere Gäste umringten sie, als seien die beiden Wanderschauspieler, die gerade ein Theaterstück improvisierten. Mit dem Verletzten ging es zu Ende, doch George versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, während er Druck auf die Wunde ausübte. Er laberte Belanglosigkeiten, und der Mann wusste genau, dass er dem Tode geweiht war. Fast schien es, als fühle er, wie das Leben aus ihm wich. Er konnte offenbar genau einschätzen, wie viel Kraft er noch hatte und wann sie ausgezehrt sein würde. Nur einen Satz sprach er zu George:
    »Sagen Sie meiner Frau, sie hatte recht.«
    George erinnerte sich daran, wie sehr ihn diese Worte belasteten. Zwar kannte er ihre Bedeutung nicht, musste sie aber überbringen, und zwar im gleichen Wortlaut. Wäre es um seine Frau gegangen, so dachte er, hätte er sich schließlich auch eine unverfälschte Botschaft gewünscht.
    Er wartete bis zur Beerdigung, einer trostlosen Veranstaltung, die das typisch nordirische Wetter noch deprimierender machte. Er entdeckte die junge Frau vorne unter den Angehörigen. Sehr hübsch fand er sie im schwarzen Kleid und stieß sich sogleich selbst gegen das Schienbein: Sie war eine trauernde Frau, musste er sich ins Gedächtnis rufen, und keine Dahergelaufene aus einem Nachtclub.
    George ging zu ihr und fragte, ob sie die Witwe sei. Sie fing zu weinen an und wiederholte das Wort, als begriff sie erst jetzt den Grund der Veranstaltung. Sein Auftritt hielt ihr das Geschehene unmittelbar vor Augen und verdeutlichte, dass die Konsequenzen über ein bloßes Grab hinausgingen. Er stellte sich vor und zitierte die Worte des Verstorbenen laut und deutlich: »Sagen Sie meiner Frau, sie hatte recht.« Danach lächelte er sogar, wie er es zu Hause vorm Spiegel geübt hatte. Sie dankte George nicht für die Botschaft, war aber genauso wenig empört. Nein, sie nickte bloß und ließ sich unterm Regenschirm fortführen.
    Später in jener Woche erzählte Norman ihm etwas von einer zweiten Tragödie: »Erinnerst du dich an den Kerl, der letztens erschossen wurde? Den vorm Pub?« George konnte es nicht vergessen. »Pass auf«, fuhr Norman fort. »Die Frau hat sich nun auch den goldenen Schuss gegeben. Konnte wohl nicht mehr ohne ihn …« George erfuhr den genauen Hintergrund: Sie hatte ihm ein Techtelmechtel mit ihrer engsten Freundin vorgeworfen, woraufhin er wutentbrannt und heftig dementierend ausgerissen war, um sich zu betrinken. Danach hatte sie ihn nie wieder gesehen.
    Ein unerwartetes Geräusch riss George nun aus seinem Dusel. Er schaute auf die Liege vor sich. Norman hatte die Augen aufgeschlagen, und sein Körper bebte, als lade er sich auf. Er hustete etwas Schleim, der wie rote Wandfarbe von seinen Lippen tropfte. Eine Weile starrte er George an, als sei er überrascht, ihn zu sehen. Der wartete einen Augenblick und trank unterdessen noch einen tiefen Schluck Wodka.
    Schon war der große Mann aufgestanden und torkelte auf der Stelle, als sei er der Betrunkene. Es schien, als wolle er George etwas sagen, das er jedoch gleich wieder vergaß.
    Der Jüngere erhob sich und schloss die Hand noch fester um seine Pistole. Aus unerfindlichem Grund war er auf einmal wütend auf seinen toten Kollegen. Vielleicht lag es an der Enttäuschung darüber, dass sich Norman kein Bisschen von den anderen Drecksleichen vor dem Tor abhob. Er war nicht schlauer und

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