Grippe
wollte ihn nicht in Frieden lassen. Dann die Szene in der anderen Wohnung mit der alten Frau; fast roch er die feuchte, abgestandene Luft wieder und sah ihren Ehemann, der aufstand und losging, nachdem er wenige Minuten zuvor noch tot auf der Couch gelegen hatte. Schließlich die Menschen, die an der Tür rüttelten, während der Alte Norman angreifen wollte und sich seine Frau kreischend an Georges Arm festhielt. Die Meute brach ein und kam auf ihn zu. Wie im Rückspiegel richtete er erneut die Waffe auf sie …
» Sie kamen zu uns, weil sie Hilfe suchten, nicht wahr, Kumpel? Rannten vor etwas davon, vor diesen verdammten –« Norman bekam einen weiteren Anfall, weil er sich zu sehr aufregte. Er rang nach Luft und fasste sich dabei an die Brust, als erwarte er, dass sein Herz aussetzte. »Wir haben ’ s vermasselt«, fuhr er mit einem geradezu urtümlichen Seufzer fort. »Nach Strich und Faden. Sie wollten uns nicht ans Leder, sondern Hilfe!«
George stand auf und wandte sich ab – erschüttert von den aufrichtigen Worten seines siechenden Freundes. Er konnte jenen Abend Revue passieren lassen, als sei es der gestrige gewesen oder gerade vor einer Stunde, vor zwei Minuten passiert. Und jetzt wiederholte es sich: Die Leute bestürmten sie. Sein Kollege schlug wahllos mit dem Gummiknüppel nach ihnen. Norman war immer schon ein Berserker gewesen, der sich nichts bieten ließ. Dann dachte George an sich selbst. Wie er mit feuchten Händen dastand. Sein beschlagenes Visier, der beschleunigte Atem. Und diese Frau mit dem Handy, die ihn die ganze Zeit anbrüllte. Kopfschüttelnd meckerte sie über ihn, also wollte er ihr etwas geben, das ihr wirklich Grund zur Beschwerde gab. Er schoss aus Wut auf sie. Daran erinnerte er sich besonders deutlich, denn es war das erste Mal, dass er die Waffe mit Zorn im Herzen auf jemanden richtete. Und mit Genugtuung, aber nicht allein aus Rache, denn genauso empfand er es als ästhetisch. Den zerschossenen Hals, das klaffende Fleisch und die Kugel schnittig wie ein heißes Messer durch Butter. Wie sie unter den anderen niederging, sich an die offene, nutzlos gewordene Kehle fasste mit starrem Blick aus Augen wie hellen Glühbirnchen unter ihrem Schopf.
Dann erreichten sie ihn, krallten sich an ihm fest und bettelten. Er war umringt von ihnen, doch weitere strömten herein und stellten sich hinter ihn, als sei er ihr großer Bruder bei einer Prügelei auf dem Schulhof. Sie suchten Schutz; er sollte sie verteidigen, ihnen Hilfe leisten – sich wie ein Polizist verhalten.
George widmete sich wieder seinem Freund. Gerade zog Norman einen durchsichtigen Beutel aus der Brusttasche. Er war mit weißem Pulver gefüllt.
Der Große lächelte schuldbewusst.
»Hab ich der linken –« Er brach ab, um noch mehr Schleim aufzustoßen. »Der linken Bazille im Haus geklaut.«
George war häufig dabei gewesen, als sein Kollege Verbrechern ähnliche Säckchen abgenommen hatte. In der Regel mussten sie sich an eine Wand drücken, ehe er das Kokain sicherstellte und sie dann nach allen Regeln der Kunst verdrosch. George schaute dabei geflissentlich weg oder schlenderte die nächste Gasse hinunter. Wenn sie sich wiedertrafen, tat Norman, als sei nichts geschehen, stieg in den Streifenwagen und grummelte etwas von wegen Kaffee bei McDonald ’ s. George kannte das zur Genüge.
»Was?«, fragte Norman mit etwas Speichel vor dem Mund, den er sogleich mit zittriger Hand entfernte. »Du wirst mir das doch jetzt nicht mehr krummnehmen …«
George hatte ihn nie wegen der Drogen angesprochen, doch Norman kannte den Standpunkt seines jüngeren Kollegen zu diesem Thema. Für Polizisten war es unverzeihlich, Schindluder mit illegalen Substanzen zu treiben, und George wusste wohl, dass er Norman angemessen hätte bestrafen müssen. Allerdings ließ er sich von seinem Partner einschüchtern, speziell zu Anfang, was am Altersunterschied lag. Norman war schon lange im Dienst und besaß somit einige Erfahrung, zumal er die wirklichen Hundejahre der Polizei in Nordirland durchgestanden hatte. Letztlich vermittelte er George – der wohlgemerkt einen höheren Rang innehielt – Minderwertigkeitsgefühle, auch wegen seines Zynismus bezüglich der heutigen Sitten in seinem Beruf im Vergleich zu früher. Der Jüngere sah sich nie dazu fähig, Norman zu kritisieren oder zu maßregeln, wiewohl sich dieser für Georges Schweigsamkeit und unterwürfigen Respekt kenntlich zeigte: Seine Loyalität suchte ihresgleichen. Er
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