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Größenwahn

Größenwahn

Titel: Größenwahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
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Dunkelblau. Ununterbrochen brauste das Wehr durch die schweigende Waldesnacht. Der spitze grellschwarze Schieferthurm der alten Kirche, der in der Abendröthe silbergrau geschillert, ragte jetzt mit kalter Schärfe in die durchsichtige Dämmerluft, während das stumpfe Ziegelroth des Kirchenrumpfes sich zu blassem Rosa abtönte.
    Aber indem Rother sich so dem Genuß des Augenblicks hingab, durchzuckte ihn plötzlich ein eigenthümlicher Schrecken. Er empfand einen heftigen tickenden Schmerz, er griff nach der Brust – was war das?
    Der Schmerz ließ sofort nach. Rother saß athemlos mit klopfendem Herzen da – aha, da kam er wieder. Und weiter, ab und zu, in regelmäßigen Zwischenräumen meldete sich der eigenthümliche stechende Tick an der Stelle, wo die Lungelflügel sich dehnen.
    Rother versuchte mehrere Proben. Er holte tief Athem, er bückte sich – immer derselbe Schmerz. Dann holte er einen kleinen Handspiegel hervor, den er bei sich trug, und besah in der Nähe seine Hautfarbe. Kein Zweifel – runde gezirkelte Rothflecke zeichneten sich auf den Backen ab, unter den Augen wich das Fleisch wie ausgehölt und zusammengeschrumpft zurück. Kein Zweifel – das war die Schwindsucht .
    Er untersuchte seine Brust. Sie schien so mager und eng, daß er unterm Halsknochen mit der ausgespreitzten Hand umspannen konnte. Schon als Knabe war er so schmalbrüstig gewesen, daß ein Arzt nach untersuchendem Klopfen bei einem Katarrh ihn angelegentlich fragte, ob er beim Treppensteigen keine Beschwerden empfinde. Beim Militär rangirte man ihn zur Ersatzreserve wegen allgemeiner Schwächlichkeit. Die Anlage lag also schon lange in ihm – die namenlose Aufregung der letzten Ereignisse hatte den Ausbruch nur beschleunigt. Schon früher hatte er den Stich gespürt; in der Nacht vorm Schlafengehen nach erregten Tagen hatte derselbe ihn heimgesucht. Aber er achtete damals nicht darauf. Nun war das Unglück da.
    Was sollte er thun! Was suchte er eigentlich hier oben! Ein Grab? Besser, er kehrte gleich zurück, um in Ruhe zu sterben.
    Seine Nachforschungen hatten ergeben, daß ein Pärchen wie das gesuchte hier nicht vorübergekommen war. Es fiel leicht das festzustellen, weil verschwindend wenige Touristen um diese Jahreszeit, ehe die Mitternachtssonne beginnt, Norwegen bereisen. Ob sie gleich nach Trondjem durchgefahren? Eine so anstrengende große Tour im Liebesfrühling einer »wilden« Hochzeitsreise? Kaum. Wahrscheinlich waren sie westlich, statt wie Rother nordöstlich, ins Hochland aufgebrochen – mit der vielgerühmten Drammenbahn über Krokleven und Hönevoß zum Randsfjord gereist.
    Nun, er wollte wenigstens auch dies noch versuchen. Denn wozu war er sonst planlos, ziellos, in seinem wahnwitzigen erotischen Instinkt, wie der Hund dem Geruch nachschnüffelt, hinter ihrem Unterrock hergeschnobert? Das Lächerliche, Tollwüthige seiner ganzen Reise ging ihm aus. Was wollte er denn eigentlich! Diese romantische Pilgerfahrt einer Minnesiechheit mußte er selbst ironisch belächeln. Und doch! Was hatte er denn zu versäumen gehabt! Freilich, er hätte sich männlich überwinden sollen. Doch – die Vernunft redet und die Leidenschaft handelt. Machens Andre anders?
    Was er wollte? Sie noch einmal wiedersehen. In das öde nüchterne Alltagsleben diese tragische Episode einsprengen. Wenn er sie überraschte, welch ein Moment!
    Er sprang auf. Brustschmerzen oder nicht – auf zum Randsfjord! Skyds nach Odnäs und von da die Route zurück nach Christiana absuchen!
     

III.
     
    Die Skydsstation lag aus dem Kamm des Gebirges. Diese Lage hat ihre Reize, aber auch ihre Nachtheile. Das merkte man heute so recht, wo der Regen mit dem Föhn um die Wette über die Wipfel hinpeitschte. Die bläulichen Schieferdächer der Holzstabkirche drunten im Thal, die noch vor kurzem im Sonnenschein geschillert, deckte bleifarbiger Flor. Die höchsten Spitzen schienen ersäuft und selbst die Schneekette, deren eingesenkter Grat sich wie ein doppelreihiges Gebiß hohler Riesenzähne gen Himmel fletscht – auch sie war im Dunstmeer untergegangen. Luftgebilde jagten dahin wie adlerbeschwingte Walküren; wie Flamberge zuckte es droben hin und her.
    Wie Trauerflöre hingen die düstern Tannenzweige nieder, gleich braunen Segeln in dieser brauenden Brandung. Selbst die breite Stelle, wo der Bergrutsch wie mit dem Rasirmesser mitten durch Kiefern und Gestrüpp den Abhang glatt geschürft, verdunkelte sich. Alle Conturen verwischt, verquollen,

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