Große Kinder
Leben haben, sich nichts zutrauen, unfähig scheinen, aus eigener Initiative etwas Sinnvolles zu tun, auf nichts Lust haben, sich bei der Arbeit ungeschickt anstellen, voller Aggressionen stecken und sich mit Hilfe von Drogen und anderen Mitteln in eine andere, nicht reale Welt davonstehlen!
Zugegeben, wir stecken in einem Dilemma. Denn auch große Kinder kann man tatsächlich noch nicht ganz sich selbst überlassen. Es gibt objektive Gefahren, mit denen sie noch nicht umgehen können und vor denen wir sie schützen müssen. Aber Kinder brauchen auch ihre Freiheit und Freiräume, um sich entwickeln zu können. Wie viel Freiheit ein Kind verträgt und wie viel Kontrolle es braucht, hängt von seiner individuellen Entwicklung und von seinem Alter ab. (Darauf gehe ich näher im zweiten Teil des Buches ein.)
Entscheidend ist, dass wir Erwachsenen umdenken: Wir müssen den Kindern mehr zutrauen und wir müssen wieder die Bedingungen schaffen, damit Kinder frei, aber auch geschützt ihr altersgemäßes Kinderleben führen können. Wie bei der Renaturierung der Flüsse müssen wir die unmenschliche Betonierung abbauen, ohne dass es dadurch zu einer ebenso unmenschlichen Uferlosigkeit kommt.
Wo leben wir eigentlich?
Der Lebensraum des großen Kindes
E ntwicklung ist wie ein Wandern von einer kleineren Welt zur nächsten, größeren: Am Anfang sind die Möglichkeiten des Menschen in jeder Hinsicht noch klein und eingeengt. Der Säugling ist in seinem Aktionsradius noch auf die Krabbeldecke beschränkt und das Vorschulkind kann sich selbständig und sicher nur innerhalb des Elternhauses bewegen (wozu durchaus Garten, Spielplatz und Kindergarten zählen). Auch in den geistigen Fähigkeiten, dem sozialen Verständnis und in den emotionalen Möglichkeiten und Bedürfnissen öffnet sich von Entwicklungsphase zu Entwicklungsphase immer wieder ein neuer Horizont.
Dort wo Kinder natürlich heranwachsen können, beginnen sie mit etwa 6 Jahren von sich aus die Welt außerhalb des Elternhauses und der unmittelbaren Nachbarschaft zu entdecken und für sich zu erobern. Der Bereich, in dem die Kinder leben und spielen, weitet sich auf das Dorf mit Feld, Wald, Wiesen, Bächen oder Seen beziehungsweise auf den Stadtteil mit seinen Straßen, Gebäuden, Plätzen und Schlupfwinkeln aus. In der Gemeinschaft der Gleichaltrigen wächst das Kind im Lauf der Jahre in diese am Anfang noch unübersehbar große und fremde Welt hinein, sucht ihre Grenzen, gewinnt Sicherheit, bewegt sich schließlich souverän in dem vertraut gewordenen Lebensraum, bis es ihm am Ende dieser Entwicklungsphase,also mit etwa 13 Jahren, zu langweilig und zu eng werden wird und es wieder in eine neue, größere und weitere Welt ausbrechen muss.
Die Welt außerhalb von Elternhaus und näherer Nachbarschaft steckt voller Verheißungen und Verlockungen: Alle Ecken müssen erkundet und alle Möglichkeiten, die diese Welt bietet, müssen ausprobiert, alle Geheimnisse ergründet werden. Ganz elementar: Mit Erde, Feuer, Luft, Wasser, Pflanzen und – manchmal leider – auch Tieren muss auf andere Weise als in der vorangegangenen Altersstufe experimentiert werden. Eine naturbelassene Wildnis außerhalb der Sichtweite von Erwachsenen mit undurchdringlichem Gestrüpp und Bäumen (auf die man klettern, hinter denen man sich verstecken, von denen man sich abseilen, auf die man zielen, die man als Eckpfeiler für Hütten verwenden kann), mit offenen Wiesen, Felsen, Senken im Gelände und – ganz wichtig! – mit Wasser in irgendeiner ursprünglichen Form ist der bevorzugte Lebensraum dieser Altersstufe.
Aus vielen Lebenserinnerungen ist herauszuspüren, wie wichtig es für Kinder ab etwa 7 Jahren ist, die Welt selbständig, aber gemeinsam mit Gleichaltrigen zu entdecken, zu erobern und mit ihr zu »spielen«. Als Beispiel hierfür ein Blick zurück ins Jahr 1855; Friedrich Paulsen war damals etwa 9 Jahre alt:
Der Sommer brachte vor allem die Lust zum Wasser mit, es wurde im Wasser gewatet und gebaut, gebadet und gefischt; das begehrteste war das Kahnfahren, ein seltenes und fast immer erschlichenes Vergnügen. Die Wasserfreuden haben mich am häufigsten mit der Mutter in Konflikt gebracht ...
Im Herbst ging es darum,
... daß man einen Tonnenreifen ... von dem Winde vor sich hertreiben ließ; er setzte, wenn er
einmal in Schuß war, über Gräben und Zäune, wohl eine halbe Stunde lang, und die wilde Meute querfeldein hinterher.
Im
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