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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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gerade noch ins Badezimmer schaffte, bevor ich gespieben habe. Total entsetzt war ich, ich weiß ja nicht einmal seinen Familiennamen, wir sind einfach nebeneinander gesessen im Konzert, er hat gesagt, es ist nicht sein Abonnement, er hat die Karte von einem Freund bekommen, und wir haben uns über den Zufall amüsiert, dass ich die Karte von der Freundin einer Bekannten hatte, das Konzert war zum Weinen schön, wir standen noch eine Weile draußen auf dem Platz, da begann es zu nieseln und wir sind hinüber ins Kaffeehaus gelaufen und haben über Gott und die Welt geredet und er hat mich nach Hause gebracht und ich hab ihn auf ein Glas Wein eingeladen. Es war alles so selbstverständlich, so total richtig, bis irgendwo im Haus eine Uhr schlägt und er aufspringt und sagt, dass er seinen Zug versäumt, und sich anzieht. Das Hemd hat er zweimal falsch geknöpft und wir haben gelacht und er ist mit offenen Turnschuhen wie ein Teenager die Stiegen hinuntergesprungen, drei Stufen in einem Satz. Das war’s.
    Ich weiß nicht, wie er heißt, ich weiß nicht, wo er wohnt,ich weiß nicht, ob er verheiratet ist, gar nichts weiß ich. Falsch. Ich weiß, wie er riecht, ich weiß, dass er einen Leberfleck in der Halsgrube hat, ich weiß, dass die Haare auf seiner Brust im Lampenlicht rötlich leuchten, aber die auf seinen Armen ganz schwarz sind, ich weiß, dass seine Zunge eine raue Stelle hat, ich weiß, wie er mich tief innen lachen lässt, noch nie habe ich so gelacht. O ja, ich weiß eine Menge von ihm. Gerührt hat er sich nicht, angerufen hat er nicht. Gut, wir haben keine Telefonnummern ausgetauscht, aber er weiß doch, wo ich wohne und wie ich heiße, er müsste das Türschild gelesen haben. Jetzt sind es zwei Monate, und ich versteh nicht und nicht, warum ich ihm nicht böse bin, ich müsste doch sauer sein, er hat immerhin einige Möglichkeiten, mich zu finden, ich habe keine, buchstäblich keine, aber ich bin nicht sauer, ich bin nicht einmal wirklich beunruhigt, obwohl ich mir schreckliche Dinge vorstellen kann, die ihm passiert sein könnten, ich bin – ja, ich
bin
einfach, ich bin lebendig und ich bin froh, dass da etwas in mir wächst, und ich will gar nicht wissen, ob es so ist oder so, normgerecht oder außerhalb der Norm, es soll einfach wachsen. Natürlich weiß ich, dass das verrückt ist, unverantwortlich, unreif, romantisch, weltfremd. Aber das ist mir so was von egal! Ich hätte nur gern mit dir darüber geredet, Oma, nicht, um deinen Rat einzuholen, du weißt, ich hab dich nie um Rat gebeten, und du hast mir nie einen angeboten. Ich wollte dich nur fragen, ob du dich an den Satz erinnerst, den du einmal gesagt hast und der mir nur halb im Kopf geblieben ist. Ja sicher ist es Wahnsinn, aber ohne Wahnsinn gäbe es uns nicht, und die Welt gäbe es auch nicht, es gäbe keine Marienkäfer und keine Schmetterlinge, davon bin ich überzeugt. Es ärgert mich total, dass ich den Wortlaut vergessen habe, auf den kommt es nämlich an. Findest du nicht, dass es unfair ist vondir, mich zu zwingen, ganz allein nachzudenken? Obwohl man Schwangere doch schonen soll. Außerdem wollte ich dich bitten, dass du dabei bist, wenn ich es Naomi sage. Auf dich hört sie eher. Ich glaube, sie ist heute nicht gekommen, weil sie es nicht aushält, wenn alle über dich reden, als verstünden sie etwas von dir. Wetten, sie steht jetzt an deinem Grab und unterhält sich mit dir? Erinnere dich, sie wollte dich immer nur allein besuchen, schon als sie noch sehr klein war, hat sie mich weggeschickt, wenn wir zu dir kamen. Sie ist sowieso furchtbar schwierig und für sie wird es ein Schock sein. Sie hängt doch so an ihrem Vater. Ob sie mir je verzeihen wird, dass ich mit einem Mann geschlafen habe, noch dazu mit einem Fremden? Eine Mutter tut so etwas nicht. Ist es nicht seltsam? Früher hat man sich vor den Eltern gefürchtet, hab ich immer gehört, heute fürchtet man sich vor den Kindern. Nein, nicht
man
. Manche Eltern fürchten sich vor ihren Kindern. Als ob die Kinder unsere Richter wären. Ich glaube, es liegt daran, dass unsere Eltern eine Menge verspielt haben von dem Kredit, den wir ihnen eingeräumt hatten. Jetzt fürchten wir, dass unsere Kinder uns genauso sehen wie wir unsere Eltern. Ganz lieb, aber im Grunde nicht ernst zu nehmen, weil sie keine Ahnung haben, weil sie sich in der Vergangenheit eingerichtet haben und nicht in der Gegenwart angekommen sind. Eigentlich nicht in der eigenen Vergangenheit, wenn man’s genau

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