Großmutters Schuhe
weiter seine Socken gewaschen, seine Hemden gebügelt, sein Essen gekocht, es war nur nicht mehr dasselbe wie früher. Ich habe ihm sogar noch ein Kind geschenkt, wie es so schön heißt. Ein Kind geschenkt? Verschenken kann man nur, was einem gehört. Wann hört ein Kind auf, den Eltern zu gehören? Wenn es nicht mehr auf sie hört? Man muss lernen loszulassen, heißt es immer wieder. Wie kann man loslassen, was man nicht halten kann? Ich hätte mir immer gewünscht, von Mama gehalten zu werden. Hat nicht Archimedes schon gesagt, gib mir einen festen Punkt, auf dem ich stehen kann, dann werde ich die Welt aus den Angeln heben? Vielleicht hätte ich Mama fragen sollen, ob sie einen solchen Punkt hat. Wahrscheinlich hätte sie mich nur ausgelacht. Trotzdem hätte ich mehr fragen müssen. Die Fragen, die man nicht gestellt hat, landen auf dem Schuldenkonto, das lässt sich nur löschen, wenn man wie Parsifal weggeht und irgendwann den Weg zurück findet. Moment, nein, falsches Bild, er hat ihr ja das Herz gebrochen mit seinem Weggehen. Vielleicht hätte ich weggehen müssen, um an dein Herz heranzukommen. So viele Fallstricke in jeder Frage, die harmlos daherkommt. Schon als Acht- oder Neunjährige haben die Kinder meine Fragen ätzend gefunden, nein, damals verwendeten sie das Wort noch nicht, das kam erst später auf, aber sie verdrehten die Augen, bis nur mehr das Weiße zu sehen war, und seufzten. Als Jugendliche sagten sie dann »Mutter!«, mit dieser Emphase, die mich verstörte. Wie ich die Mütter beneide, die voll Stolz sagen können: Ich habe dir das Leben geschenkt. Als müssten die Kinder dafür dankbar sein. Sindsie natürlich nicht, warum auch? Die Kinder selbst sind das Geschenk, ihr eigenes Geschenk an das Leben, das hat doch der Khalil Gibran geschrieben, oder? Wie hieß das Buch, Sophie hat es mir geschenkt zur Geburt von Anna, ich habe es auch gleich gelesen, aber gewirkt hat es nicht. Ich hatte zu viel Angst um die Kinder, zu wenig Vertrauen in Eberhards Fähigkeiten als Vater, zu wenig Vertrauen in meine Fähigkeiten als Mutter, zu viel Arbeit, zu wenig Zeit. Ein ewiges Zittern zwischen Zuviel und Zuwenig. Nicht fest genug gehalten, und genau deshalb nicht imstande, loszulassen. Mama, ich hab’s auch nicht besser geschafft als du. Leider. Warum fällt mir wieder Lea ein mit dem gerade drei Tage alten Marco an der Brust, da waren sie und ihr Kind, später, als ich darüber nachdachte, verstand ich, warum die alten Meister so eine Lichthülle um Madonna und Kind malten, aber damals blieb ich auf der Schwelle stehen und verschluckte mich an meinen Tränen, bis mir Thomas heftig auf den Rücken klopfte, und es war nicht Rührung, oder doch, auch Rührung, vor allem aber eine furchtbare Eifersucht. So hätte ich mit Anna verbunden sein wollen und mit Thomas. Nicht, dass ich sie nicht geliebt hätte, das wohl. Aber nicht so, anders. Vielleicht ist Lea näher an sich selbst, an ihrer Natur als weibliches Wesen? Oder nur näher am Muttermythos, der jetzt wieder so stark im Kommen ist und mir ein vages Unbehagen verursacht, so eine Art politisches Magendrücken? Du hast uns gewiss nicht auf diese Art geliebt, Mama. Papa hatte ein Foto von dir in der Brieftasche, du als Rembrandt-Madonna mit einer von uns an der Brust, an der züchtig verhüllten Brust natürlich, in einem Lichtkegel. Ihr konntet euch nicht einigen, wer das Kind auf dem Bild war, Stefanie oder ich. Ich hätte so gern gehabt, dass es ich gewesen wäre. Lange Zeit dachte ich, die Tatsache, dass die Elternihre eigenen Töchter nicht mit Sicherheit erkannten, sei ein Beweis dafür, wie wenig sie uns wahrgenommen haben. Bis ich selbst Babyfotos meiner Kinder ordnete und nicht wusste, ist das Anna oder Thomas. Manchmal glaube ich fast, dass die Rührung, die so viele Frauen meiner Generation beim Anblick junger Säuglinge überfällt, eine zivilisierte Form des Neides ist, weil diese Kinder etwas bekommen, das man ihnen selbst vorenthalten hat und das sie ihren eigenen Kindern nicht geben konnten. Jetzt räuspert sich Eberhard auf diese besondere Art, die eine Drohung enthält. Es kann sich nur mehr um Sekunden handeln, bis er fragt: Kennen Sie den? Vor ein paar Jahren wäre mir das noch grauenhaft peinlich gewesen. Es hat durchaus seine Vorteile, wenn einem die Liebe abhandengekommen ist. Es ist nicht mehr meine Sache, wenn er sich lächerlich macht. Thomas hat dieselbe Falte auf der Stirn wie sein Vater, ein breites Trogtal, dessen Ränder bis
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