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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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fast an die Schläfen reichen. Er fühlt sich offenbar unbehaglich, es wird nicht mehr lange dauern, bis er auf die Uhr schaut, den Kopf schüttelt, aufsteht, mit den Schultern zuckt, als müsste er sich mit Gewalt losreißen, und dann entschlossenen Schrittes weggeht, wobei er die Tür lautlos hinter sich schließt. Wie vorhersehbar er doch ist, mein lieber Sohn, und gleichzeitig wie undurchsichtig. Ich weiß, was er tun wird, meistens wenigstens, und ich habe keine Ahnung, was er denkt, und noch weniger Ahnung, was er fühlt. Ich muss mich beeilen, sonst ist er weg. Ob es ihm passt oder nicht, ich hole mir wenigstens den obligaten Nasenstupser auf die linke Wange. Wie hat Patricia so richtig gesagt? Man muss selbst sagen, was man will, es ist totale Egozentrik zu verlangen, dass sich die anderen pausenlos die Köpfe darüber zerbrechen, was man will. »Du glaubst, du wärst bescheiden«, hat sie zu Stefanie gesagt, die sich darüber beklagthatte, wie selten sie David sehe, »in Wirklichkeit forderst du mehr als alle anderen.« Ich fand das damals herzlos, für David hätte sich Stefanie jederzeit in Stücke reißen lassen. Was tut er mit einer zerstückelten Großmutter? hat Patricia gefragt, als ob das ein sachliches Problem wäre. Man kann über Stefanie sagen, was man will, aber Familiensinn kann ihr niemand absprechen. Patricias Frechheiten hebt sie auf, als wären es Edelsteine, und wenn ich ihr sage, das dürfe sie sich nicht gefallen lassen, lächelt sie versonnen und von oben herab, ich könne natürlich nicht verstehen, wie das gemeint sei, sie aber wisse genau, dass Patricia ihr die geschliffenen Bemerkungen zum Geschenk macht.
    Du warst mir oft im Weg, Mama. Egal, in welche Richtung ich ging, irgendwann standest du da und versperrtest den Weg. Hast du mit deinem Dastehen erst die Illusion erzeugt, es könne einen Weg geben? Kann sein, ist auch egal. Nein, ist nicht egal. Irgendwie muss es ja weitergehen, jetzt, wo du tot bist.
    Nie hab ich dir erzählt, wie das war, kurz bevor Thomas endlich zur Welt kam, zehn Tage nach dem errechneten Termin, ich wollte ja nicht von dir ausgelacht werden. Ich war so weit, dass ich, sooft das Telefon läutete, dachte, jetzt ruft jemand an, um mir zu sagen, das Kind ist da. Mindestens zweimal bin ich ausgerutscht auf einem von Annas Bauklötzen, wenn ich zum Telefon gerannt bin. Eberhard sagte natürlich nur: Lass es doch läuten. Am Dienstag, doch, das war Dienstag, ich weiß es genau, hebe ich ab und niemand antwortet. Kurz darauf noch einmal, und eine Stunde später wieder. Es war auch kein Geräusch in der Leitung, kein Atem zu hören, kein Rauschen, einfach nichts. Nein, nicht einfach nichts. Das Nichts selbst. Das Nichts, also der Tod. Ich war gestorben, und hatte es nicht gemerkt. Das wurdemir erst in der Nacht klar, als ich aufwachte und mein Herz so hart gegen die Brust klopfte, dass es wehtat. Am Morgen war ich erstaunt, dass ich keinen blauen Fleck an der Stelle hatte. Und was tat ich? Putzte drei Tage lang die Küchenschränke, füllte Erbsen, Reis usw. in große Einsiedegläser, schrubbte, polierte. Anna saß auf der Anrichte und trommelte mit zwei Kochlöffeln, bis ich es nicht mehr aushielt und ihr die Kochlöffel wegnahm, da begann sie zu brüllen und hörte erst auf, als Eberhard heimkam und sie in der Luft herumschwenkte. Setz dich doch, sagte er, und ich hörte, du spinnst. Tags darauf kamst du, Mama, ich bin sicher, dass Eberhard dich gerufen hatte, und du gingst mit Anna einkaufen. Als das Telefon läutete, war da eine Stimme, die ich nicht einordnen konnte, sie klang irgendwie bekannt, aber ich hätte nicht einmal mit Sicherheit sagen können, ob es ein Mann war oder eine Frau, jedenfalls hörte ich noch, »Also bis morgen um halb vier«, dann wurde die Verbindung unterbrochen. Ich wusste nun also Tag und Stunde. Angst hatte ich eigentlich nicht, so eine Art sanfte Traurigkeit, wenn ich Anna ansah. Armes Kind, dachte ich, mein armes mutterloses Kind. Zwischendurch sagte ich mir, da hat sich nur jemand verwählt, du bist ein bisschen verrückt, das passiert schon einmal bei Schwangeren, mach dir nichts draus. Ich hab sogar einen Kuchen gebacken. Ich rief dich an, Mama, und bat dich, mit Anna spazieren zu gehen. Sie sollte nicht dabei sein, wenn es … passierte. Du kamst ein bisschen zu spät, Mama, gegen drei, statt um halb drei, wolltest noch mit mir Kaffee trinken, hattest auch Kuchen mitgebracht, ich musste euch beinahe aus der Wohnung werfen. Du

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