Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh

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wünschte, sie wäre ihm unter anderen Umständen begegnet. Der Chef ahnt ja nicht einmal, was er an Alban hat, dachte Lisa. Die aufgeblasenen alten Männer am Tisch konnten ihm nicht das Wasser reichen, aber zu ihrem Glück wussten sie das nicht. Albans Freundlichkeit war absolut echt, ohne jede Berechnung, dass sie dem Gast galt und nicht der Person, war vermutlich nicht einmal ihm selbst klar. Er wollte nur, dass sich die Gäste wohl fühlten, und das erreichte er mit einer Unzahl winziger Aufmerksamkeiten, die niemandem auffielen, aber in der Summe eine Stimmung schafften, die Freundlichkeit möglich machte. An manchen Tagen hatte Lisa den Eindruck, dass er mit jeder Gruppe trauerte um Menschen, die er nie gekannt hatte. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht um eigene Tote trauerte, die er nicht hatte begraben können.
    Es war eine schreckliche Unruhe in ihr. Am liebsten hätte sie die Schürze abgenommen, hätte den Mantel angezogen
und wäre gegangen, hätte dem Friedhof den Rücken gekehrt, wäre bergab gegangen und wieder hügelauf, immer nach Westen, ohne zu blinzeln in die Sonne schauend, bis das kreisende Schwindelgefühl einsetzte, das eine wie sie in sein dunkles Zentrum saugte. Als Kind war sie oft über eine Wiese gekollert und hatte dann, den Kopf zwischen die Beine gehängt, in die Sonne geschaut. Ein Freund hatte ihr erzählt, dass Haschisch so auf ihn wirkte. Sie brauchte keine Droge dafür. Wir leben vom Sterben, dachte sie, ohne diese Begräbnisgesellschaften verirrt sich kaum einer in dieses Beisel, da bräuchte es kein Extrazimmer mit Kristallluster und altdeutscher Anrichte, da wäre die Gaststube mehr als genug für die drei, vier Säufer, da bräuchte es keine Köchin und keinen Alban, und mich bräuchte es erst recht nicht.

Thomas, 46
    Warum habe ich mich herschleppen lassen? Großmutter hätte es nicht von mir verlangt, und ich weiß wirklich nicht, was Lea sich davon verspricht, heile Familie zu spielen. Wie mich diese Küsserei anwidert, dieses falsche Interesse. Wenn noch ein Einziger zu mir sagt, wir müssen uns wirklich demnächst sehen, zu schade, dass die Familie nur bei einer so traurigen Gelegenheit vollzählig versammelt ist, kann ich für nichts garantieren. Ich sollte längst in der Sitzung sein, der Müller ist einfach unfähig, diese Sitzung ist eindeutig eine Nummer zu groß für ihn, und das Schlimme ist, dass er es im Grunde weiß.
Procrastination
, wenn es das Wort nicht längst gäbe, hätte es für ihn erfunden werden müssen. Symptomatisch, dass es kein deutsches Äquivalent gibt, Verzögerung, Hinausschleppen ist viel zu schwach. Habe ich das Handy wieder eingeschaltet? Sonst klingelt es ja auch ständig, nur dann nicht, wenn man es brauchen würde. Lea unterhält sich offenbar blendend mit diesem Raffael, der aussieht, als käme er gerade vom Friseur, Strahlemann vom Dienst. Wie er sich aufplustert. Bin ich froh, dass ich mich damals gewehrt habe, ihn in die Firma aufzunehmen, obwohl Großmutter ja wirklich alles drangesetzt hat, mich zu überreden. Würde mich wundern, wenn der nicht jedem ein Hackl ins Kreuz wirft, der ihn gefördert hat. Nicht, dass ich mich vor ihm fürchten würde, das wäre ja noch schöner. Wenn es einer mit mir aufnehmen will, muss er doch etwas früher aufstehen.
    Wer ist der alte Herr mit den weißen Strubbelhaaren? Ein toller Kopf, sieht fast aus wie Einstein, man möchte glauben, er wäre den letzten Rätseln auf der Spur. Wahrscheinlich denkt er gar nichts. Einmal machte Großmama so ein Gesicht, und als ich sie fragte, woran sie denke, sagte sie: Ich hör dem Rumpeln in meinem Bauch zu.
    Du hast es gut gemacht, Großmama, vielleicht auch Glück gehabt. Ich hoffe, du hast nicht gewusst, dass Mama und Tante Stefanie dir das komfortable Pensionistenheim einreden wollten. Natürlich nur zu deinem Besten. Die beiden wissen immer, was für alle anderen das Beste ist. Sie wollen nur unser Bestes, aber das kriegen sie nicht. Die Karte hing am Klo unserer WG. Jonathan macht wieder einen so weggetretenen Eindruck, ist er high? Die Prüfung hat er nicht bestanden, da würde ich wetten, er hat sich so schnell weggedreht, als ich ihn begrüßte, wollte mir nicht Zeit lassen für eine Frage. Großmama hatte schon recht mit ihrer Behauptung, die Ersten bauen auf, die Zweiten erhalten, die Dritten wirtschaften ab. Ich konnte mich ja nicht durchsetzen gegen Lea, es war wohl Teil ihrer Strategie im Kampf gegen mich, wie sie die Buben