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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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schließlich ein Mann. Sie trank dann »Auf den freien Willen!«. Ich antwortete: »Selbst wenn es ihn nicht gibt!« Worauf sie drohte: »Er soll sich unterstehen!« Im Abendlicht sah sie so frisch und gesund aus, mit einem goldenen Schimmer auf Stirn und Wangen. Wir schauten den Krähen nach, die vom Himmelhof zu ihren Schlafplätzen am Steinhof flogen. Als ich mich verabschiedete, umarmte sie mich und sagte, sie freue sich schon auf meinen nächsten Besuch, aber sie würde mir nie verzeihen, wenn ich mich verpflichtet fühlte.
    Schade, dass Lilly nicht da ist. David sieht ihr so ähnlich, dass es fast schon lächerlich ist, und gleichzeitig erinnert er mich immer mehr an Ditta. Vielleicht sind die beiden Frauen doch irgendwie verwandt, wahlverwandt sind sie jedenfalls. Ob Ditta gesehen hat, wie ähnlich ihr der Urenkel ist? Wie er jetzt dasitzt mit ganz leicht geneigtem Kopf – ich wette, die linke Nachbarin glaubt genauso wie die rechte, dass er ihr gespannt zuhört, in Wirklichkeit hört er vielleicht eine der Ragas, die er so sehr liebt, er hat mir einmal gesagt, er kann sie im Kopf abspielen. Genau so hat Ditta zugehört. Mit dem Gesicht könnte er Therapeut werden, Psychologiestudium überflüssig.
    Eigentlich müsste ich Eberhard dankbar sein. Ich kanntun, als hörte ich zu, und muss nichts reden. F. T. ist bereits eingenickt, kein Wunder bei dem weihevollen Gebrabbel. Mit entspanntem Gesicht ist er ein müder alter Mann, sein Doppelkinn rutscht immer tiefer hinunter. Theresa hat aus Brotkrume eine Rose geknetet, sie erwischt meinen Blick auf ihr Werk und grinst ein bisschen verlegen. Aber nicht mehr so, als wäre es eine Form von Missbrauch, dass ich sie anschaue. Ganz freundlich. Vielleicht können wir irgendwann eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein miteinander trinken und uns unterhalten wie alte Freunde.
    Ditta würde mich jetzt fragen, ob ich Theresa immer noch liebe. Schwer zu sagen. Gleichgültig ist sie mir ganz gewiss nicht. Aber mein Atem geht ruhig, mein Herz schlägt ohne eine einzige Synkope, kein Schmetterling im Bauch, nur Kalbsgeschnetzeltes, ich schwitze nicht, ich krieg keine Gänsehaut, keine Zitterknie. Meine Hände erinnern sich nicht an das Gewicht ihrer runden Brüste, auch nicht, wie sich die kleine Speckrolle anfühlt, die nach Naomis Geburt übrig blieb und die sie so gestört hat. Ich denke, wir könnten einander jetzt einfach mit einem gewissen Wohlwollen begegnen trotz der gemeinsamen Vergangenheit. Was war, ist vorbei, gut so,
vorwärts und nicht vergessen
, wie geht das weiter? Jedenfalls vorwärts. Ein Kapitel ist abgeschlossen, ja, Ditta, mit deinem Tod ist ein Kapitel abgeschlossen, auch für mich, gerade für mich, obwohl oder vielleicht gerade weil ich nicht mit dir verwandt war. Wir mussten einander nicht mögen. Ich glaube schon, dass du mich auch gemocht hast, auf deine Art. Die nicht immer ganz ehrlich war, das musst du zugeben. Gar nichts musst du zugeben. Mit welchem Recht verlangen wir so etwas wie Ehrlichkeit, wenn wir selbst doch so selten bereit sind, das Risiko einzugehen, ungeschützt ehrlich zu sein?
    Warum legt Lea ihre dünnen Finger auf mein Handgelenk? Jetzt sagt sie auch noch, wie sehr sie es schätzt, dass ich so gut zuhören kann. Und ich habe nicht ein einziges Wort gehört oder jedenfalls keines verstanden. Ziemlich gemein von ihr, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Blödsinn. Hat sie wirklich nicht gemerkt, dass ich ganz woanders war? Ich wüsste schon gern, für wen Theresa die Rose gemacht hat.
    Nein, verliebt in sie bin ich ganz bestimmt nicht mehr. Aber gleichgültig ist sie mir ebenso wenig. Eine Art Echo ist noch da, ich möchte, dass es ihr gut geht, und ich hätte gar nichts dagegen, hin und wieder zu hören, was sie so treibt. Schade, dass ich Ditta nicht von Sylvie erzählt habe. Immer wieder habe ich überlegt, Ditta mit Sylvie zu besuchen, und dann habe ich es aufgeschoben. Zu spät.
Nevermore, quoth the raven: Nevermore
.

Nach der Runde um den Häuserblock grüßte Elvira hoheitsvoll winkend, als Alban den Rollstuhl zurück an ihren Platz schob. Sie zwinkerte Alfred Schreiber zu, blies ein Küsschen in Davids Richtung. »Brav!« , lobte sie und tätschelte Albans Hand. Er nahm das Tablett vom Seitentischchen, bot Getränke an in perfekter Haltung, die Serviette an seinem Arm wirkte wie eine Trophäe. Die alten Damen betrachteten ihn mit deutlichem Wohlwollen, und er lächelte jede so an, dass sie sich speziell gemeint fühlte und

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