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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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schon vorstellen, dass ihre Töchter in ihrem Schatten nicht genug Sonne und nicht genug Wasser bekommen haben, wie meineFrau Schwiegermutter oft und oft angedeutet hat, aber das war nicht mein Problem. Wie sie mich immer empfangen hat, mit hoch erhobenen ausgebreiteten Armen. Natürlich war das theatralisch, aber es hat zu ihr gepasst. Eine große Geste, kleine Gesten waren ihre Sache nicht. Wie sie sich vorbeugte, wenn sie fragte: Und wie geht es dir, mein Lieber? Wenn sie »mein Lieber« sagte, kam ich mir wichtig vor, auch als ich längst wusste, dass ich nur einer von vielen war. Immerhin entzog sie mir den Titel nicht nach der Scheidung, im Gegensatz zu ihrer Tochter, die hat mich doch beim Kondolieren tatsächlich gesiezt und mir nicht die Hand gegeben. Die sie übrigens gut und gerne behalten kann, ich brauche ihre Hand nicht, wirklich nicht. Meine Frau Ex-Schwiegermutter hab ich nie gemocht, das ist immerhin etwas, das sie und ich gemeinsam haben. Sie mag sich selbst nicht, es ist mir ein Rätsel, wie sie zu einer Tochter wie Theresa gekommen ist.
    Theresa ist verliebt. So sieht eine Frau nur aus, wenn sie verliebt ist. Man könnte glauben, ihre Augen wären noch größer geworden und ihr Hals noch länger. Nofretete. Ich darf sie nicht so anstarren, das konnte sie schon nicht leiden, als wir noch zusammen waren. Hat nie geglaubt, dass es einfach Freude macht, sie anzusehen, da war immer der Verdacht, man hätte etwas gefunden, das geändert werden müsste. Ein Pickel, eine Falte, verschmiertes Make-up … Jetzt strahlt sie, obwohl ihre Augen schwimmen, obwohl sie dunkle Ringe unter den Augen hat. Ich weiß noch immer nicht, wie uns das passieren konnte. Man kann doch eine Liebe nicht verlieren wie einen Handschuh oder eine Brieftasche oder einen Schlüssel. Anscheinend doch. Wie viele verlorene Lieben liegen in den Parks, auf den Straßen, hängen in den Bäumen, fetzig wie alte Plastiktüten, zu nichts nütze. Wenn du Pech hast, reißt der Wind eine herunter undklatscht sie dir ins Gesicht, widerlich und feucht, und du hast zu tun, die Nase frei zu bekommen. Recycling möglich? Oder doch nicht? In Westafrika sammeln sie die schwarzen Plastiktüten, schneiden sie in dünne Streifen und verarbeiten sie zu wirklich sehr schicken Taschen. Fühlen sich gar nicht wie Plastik an. Wie geht das Gedicht von Erich Fried? »Alles, was tut, als hätte ich es verloren, sammelt sich heimlich«? Ist nicht ganz richtig zitiert, macht auch nichts. Bei meinem letzten Besuch erzählte Ditta von einem Zeitungsartikel, der sie offenbar sehr beschäftigt hat. Ein amerikanischer Neurologe schrieb anscheinend, der freie Wille sei nur eine Frage der Wahrnehmung, keine treibende Kraft. Wir glauben, eine Entscheidung getroffen zu haben, behauptete er, in Wirklichkeit aber hätten Studien bewiesen, dass wir agierten, noch bevor wir uns entschieden hätten, also Impulsen folgten, die nichts mit unserem Bewusstsein zu tun hätten. Sie packte meine beiden Hände. Wo bliebe dann die Verantwortung, fragte sie, dann wäre ja bewiesen, dass die Calvinisten recht hätten, alles sei vorbestimmt und jenseits unserer Kontrolle, wir könnten strampeln in unseren Hamsterrädern bis zum Umfallen, und es würde nicht den geringsten Unterschied machen. »Ich habe es eher als Ehre empfunden, dass die Schimpansen und die Orang-Utans zur Familie gehören«, sagte sie, »sie gefallen mir in vieler Hinsicht weit besser als die sonstige Verwandtschaft, also mit Darwin hatte ich nie ein Problem, aber die Vorstellung, dass nicht einmal meine Fehler mir gehören sollen, die passt mir ganz und gar nicht. Dann wäre das Leben noch sinnloser, als ich manchmal fürchte.« Ich versuchte das Argument des Amerikaners zu unterlaufen, schließlich ist doch das Unterbewusstsein auch ein Teil des Ich und darf nicht als Beweis gegen die Existenz eines freien Willens missbraucht werden.Sie verwarf meine Meinung buchstäblich mit beiden Händen – ich glaube, kein Mensch hat je so endgültig die Hände mit gespreizten Fingern über die Schultern geworfen, gegen diese Abfuhr gab es keine Berufung –, schenkte Tee nach und sagte nach einer Pause, sie bestehe auf ihrem Recht, einen freien Willen zu haben, selbst wenn der von allen möglichen Bedingungen eingeengt wäre. Und jetzt solle ich bitte schön in die Küche gehen, sie habe eine Flasche Pinot Gris eingekühlt, aufmachen müsse ich sie schon selbst, sie habe gar keine Kraft mehr in den Fingern und ich sei

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