Großmutters Schuhe
gehalten, bis wir zu einem Bach kamen, da haben wir uns gewaschen und herumgespritzt und es war einfach schön. »Wir beide«, hat er gesagt, immer wieder »Wir beide« auf dem langen Weg zurück zum Auto. Das Bein war tatsächlich gebrochen, der Knöchel war so geschwollen, dass der Arzt in der Unfallambulanz Papa sehr vorwurfsvoll anschaute.
Angeblich hat Großmama als junge Frau einen Aufschlag gehabt, vor dem sich die meisten ihrer Tennispartner gefürchtet haben. Würde mich nicht wundern. Sie hat auch ihre Pointen perfekt placiert, sie zurückzuspielen war so gut wie unmöglich.
Lea schaut schon zum dritten oder vierten Mal herüber. Signalisiert sie mir, dass wir gehen sollen? Nichts, das ich lieber täte. Wenn sie auch nur ein einziges Mal wirkliches Interesse an meiner Arbeit gezeigt hätte, wäre manches anders geworden. Patricia hat schon den gleichen Blick wie ihre Urgroßmutter, wenn sie die Leute mustert. Ich gäbe was dafür, in ihren Kopf hineinsehen zu können. Wäre vermutlich amüsant – und ziemlich bösartig, allerdings nicht unverdient. In dieser Familie haben die Frauen alles an sich gerissen, was es an Begabung gab. Welche Chance haben da wir Armen? Also nein, das geht zu weit. Wie war das mit: So groß bist du nicht, dass du dich so klein machen müsstest? Natürlich auch einer von Großmamas Aussprüchen. Keine Ahnung, woher der stammt. Sie hat ja nie mit Quellenangabe zitiert, nicht einmal, wenn man sie gefragt hat. Dadurch, dass sie es zitiert hat, hat sie es sich zu eigen gemacht. Gut, ist auch egal, wirklich, sie hat ja keine Dissertation darüber geschrieben. Im Grunde habe ich sie kaum gekannt. Mama zwang uns zwar, geschnäuzt und gekämmt bei jedem von Großmamas Geburtstagen und natürlich zum heiligen Adventsingenanzutanzen, aber sie hat es nicht gern gesehen, wenn wir allein zu ihr fuhren. Schon seltsam, so viele Dinge habe ich getan, die sie noch weniger gern gesehen hat, aber da habe ich ihr gefolgt. Warum eigentlich? Immer wieder einmal dachte ich, morgen gehe ich sie besuchen. Oder am nächsten Dienstag, spätestens. Immer ist etwas dazwischengekommen, wenn man es genau nimmt, war es oft gar nicht so wichtig. Seltsam, es war mir immer klar, dass meine Eltern eines Tages sterben, schon als Kind. Aber Großmama? Nie. Wer war es nur, der mir erzählt hat, dass sie zu Kriegsende einen Deserteur im Haus versteckt hat, als Frau verkleidet? Und dass sie einer jüdischen Schulkameradin zwei Jahre lang täglich Essen gebracht hat, die aber dann ein paar Tage vor Kriegsende an Typhus starb? Großmama selbst hat nie davon gesprochen. Warum habe ich sie nie danach gefragt? Habe ich Angst gehabt, sie könnte mich auslachen und sagen, ich hätte es wohl notwendig, eine Heldin zur Großmutter zu haben? Was ja nicht ganz verkehrt wäre, früher jedenfalls. Nein, es würde mir gefallen, auch heute noch, obwohl ich sicher nicht damit prahlen würde. Für mich selbst wäre es ein guter Gedanke, irgendwie motivierend. Ein Gegengewicht zu den unsäglichen Figuren, die sich als heimliche Widerständler gerieren, weil sie einmal einen Hitlerwitz erzählt oder Ärger mit dem Blockwart bekommen haben wegen einer undichten Verdunkelung. Was hätte ich sonst anzubieten? Eine gescheiterte Ehe, zwei Söhne, von denen ich nichts erwarte? Stimmt nicht ganz, sonst wäre ich wohl nicht immer wieder von neuem enttäuscht. Einen funktionierenden Betrieb, das wohl, und vorläufig muss ich ja noch nicht daran denken, wer ihn nach mir übernimmt. Einen funktionierenden Betrieb, erhöhte Cholesterin- und Blutdruckwerte. Großartige Bilanz. Verdammt noch einmal, es ist zu früh füreine Bilanzkrise! Und überhaupt, ich wette, wenn ich jetzt eine von diesen albernen Blitzumfragen starten wollte, hier an diesem Tisch: Worin liegt der Sinn deines Lebens? – nicht eine einzige vernünftige Antwort würde ich bekommen. Nicht eine. Weitermachen, das ist alles, was ihnen einfallen würde. Wie der Feldwebel in der Grundausbildung immer gebrüllt hat. Weitermachen!
Mama sieht heute alt aus. Alt und müde. Manchmal tut sie mir leid, obwohl sie sich selbst so aufrichtig leidtut, dass es eigentlich überflüssig ist, wenn auch andere mit ihr Mitleid haben. Wirklich unglücklich wäre sie ja erst dann, wenn sie keinen Grund hätte, sich selbst leidzutun. Arme Mama. Manche haben ein Talent zum Glücklichsein, ohne Rücksicht auf die realen Zustände, Mama hat ein Talent zum Unglücklichsein, ebenfalls ohne Rücksicht auf die
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