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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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realen Zustände. Arme Mama. Gar nix arme Mama. Anna und ich sollten stellvertretend für sie glücklich sein, schließlich hatten wir ja allen Grund dazu, da sie doch unsere Mutter war und sich für uns aufopferte, Tag und Nacht und so weiter, aber wenn wir einmal laut lachten – selten genug –, dann kam dieser verdammte schmerzlich verspannte Ausdruck über ihr Gesicht, diese Mater dolorosa, die immer zu sagen schien, hier, mein Kind, hier hast du das Messer, schneide nur das Herz aus meiner Brust, dünste es in Butter, vergiss nicht, Majoran draufzustreuen oder vielleicht doch Oregano, gib grob gemahlenen Pfeffer dazu, und das Salz erst ganz zum Schluss. Was reg ich mich auf, ist doch nicht mehr mein Problem. Deins schon eher, Papa. Was war ich zornig auf dich. Jetzt wünsche ich dir, dass es dir gut geht mit deiner Dulcinea, wie immer sie heißt, ich kann mir schließlich nicht alles merken.
    Warum starrt Elvira mich so an?
    Die wollen doch tatsächlich noch ein Dessert bestellen. Studieren die Karte, als müssten sie darüber eine Seminararbeit schreiben. Das verlängert diese Farce garantiert um mindestens dreißig Minuten. Nichts gegen dich, Oma, aber die Behauptung, das Zusammensein mit der ganzen Verwandtschaft zu ermöglichen sei ein letzter Liebesbeweis des Verstorbenen, die ist doch wahrhaftig verlogen. Eine Strafe für alle Versäumnisse, das trifft’s schon eher. Einmal hast du mich gebeten, dich auf den Friedhof zu fahren, Oma, es war ein heller Septembertag, kein Mensch auf dem Friedhof, auf der hohen Birke sang eine Amsel, wir haben Stiefmütterchen auf Opas Grab gesetzt. Du hattest gerade die Blumen eingegossen, da begann die Totenglocke zu läuten. Hinter dem Sarg ging eine einzige Frau. Du hast mir zugenickt, Oma, hast drei Stiefmütterchen abgepflückt und wir sind hinter der Frau den Hang hinaufgegangen bis zur letzten Reihe an der Mauer. Du hast die drei Stiefmütterchen auf den hellen Sarg geworfen, ich konnte keine Münzen für den Totengräber finden, das war mir peinlich, aber nicht peinlich genug, um ihm den 2o-Euro-Schein zu geben, den kleinsten, den ich hatte. Die Frau sagte Danke und ging mit sehr raschen Schritten davon. Als wir zum Friedhofstor kamen, war sie nicht mehr zu sehen. Du hast darauf bestanden, mich zum Kaffee einzuladen. Schon gut, Oma. Hab verstanden.

Der hatte vielleicht geladen. Schon wie er hereinkam, in der Gaststube stehen blieb, wie er die Tür zum Extrazimmer fixierte, ein Auge zugekniffen, als wollte er zielen, den Kopf vorgeschoben wie ein gereizter Stier. Schultern hoch, Arme leicht nach rückwärts setzte er sich in Bewegung auf die offene Tür zu, gehorchte einem Befehl, den keiner hörte. Die werden eine Freude haben mit dem Herrn, dachte Lisa, so was von im Öl hab ich schon lang nicht mehr gesehen, dagegen sind unsere alten Schnapsbrüder geradezu nüchtern, und er macht mir ganz den Eindruck, als ob er Ärger sucht, aber was soll ich tun, der Chef ist wieder einmal nicht da, der ist nie da, wenn man ihn ausnahmsweise einmal brauchen könnte.
    Auf der Schwelle blieb der Mann stehen, zupfte an seinem Hemdkragen, fingerte nach seiner Krawatte, die er entweder vergessen oder unterwegs verloren hatte, jedenfalls fand er keine, aber das konnte er nicht glauben, Lisa wiederum konnte kaum glauben, dass keiner von der ganzen Gesellschaft hochblickte und ihn sah, alle waren über ihre Teller gebeugt, schaufelten in sich hinein. Der Mann schwankte vom linken Türstock zum rechten, wenigstens die Bewegung müssten sie doch wahrnehmen, aber keiner rührte sich, als wäre die Welt angehalten, versteinert, eingefroren. Ich komm mir vor wie im falschen Film, dachte Lisa. Der Mann machte den Mund auf und zu, völlig lautlos, plötzlich packte er sie am Arm, drehte ihr sein Gesicht zu, als er nicht
einmal mehr fünf Zentimeter entfernt war, brüllte er: »Sliwowitz!« Alle rissen die Köpfe hoch, alle starrten ihn an, mehrere stöhnten gleichzeitig »Aber Alex!«. Eine von den Damen sagte: »Sieh einer an. So viel Selbsterkenntnis hätte ich dir gar nicht zugetraut.« Er blickte in die Runde. Jetzt rede er seit mindestens fünf Minuten mit ihnen und bekäme keine Antwort, alle versicherten ihm, dass ihm nicht ein Wort, nicht eine Silbe über die Lippen gekommen war, Lisa könne das bestätigen, sie sei schließlich eine objektive Zeugin. Einen Augenblick lang war sie in Versuchung, ihnen einen Bären aufzubinden, dann sagte sie doch die Wahrheit. Der Mann war offenbar

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