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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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kommt und böse ist auf mich. Soll sie sich ein anderes Kind holen, wenn sie mich nicht will. Sie lügt sowieso, immer lügt sie, einen ganzen Monat lang hab ich den Zucker aufgespart und für den Storch ins Fenster gelegt, und hab ich einen Bruder bekommen? Natürlich nicht. Nicht einmal eine Schwester. Aber die Ditta, die hat einen Bruder gehabt, einen großen, schönen Bruder. Den hat der Krieg gefressen, aber er hat ihn nicht behalten, hat ihn wieder ausgespuckt, und er hat noch eine Menge Jahre leben müssen, das war seine Strafe. Einmal hat er mich geküsst, hinter dem Hollerstrauch beim Schuppen. Sitzen unterm Hollerbusch, machen alle Husch-husch-husch. Husch-husch-husch im Hollerbusch und klingeling, kleines Ding, himmelblauer Schmetterling.
    Wie kommt die dumme Ziege auf die Idee, ich könnte heulen? Einen Shawl will ich, kein Taschentuch.
    Ich nehm einfach den Löffel und schlage an das Wasserglas. Wie der Herr Vorstehhund. Klingeling, das Christkind war da. Gleich geht die Tür auf. Mamá, schon wieder nehmen sie mir alles weg!

Die Tischgesellschaft bemühte sich tapfer, den Schein zu wahren, zu tun, als sei es völlig normal, dass die Frau im Rollstuhl in einem auf- und absteigenden Singsang vor sich hin jammerte und mit beiden Fäusten in die Luft schlug. Die Betreuerin legte beschwichtigend eine Hand auf die Schulter der Frau, was den Klagegesang noch anschwellen ließ, der Redner stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, offenbar warteten alle, dass jemand etwas täte, die Nachbarin, eine von den Frauen, irgendjemand. Die Buben starrten mit offenem Mund fasziniert auf die Frau im Rollstuhl. Lisa überlegte, was in dieser Situation das Richtige wäre, es fiel ihr absolut nichts ein. Da trat Alban zum Tisch, verneigte sich vor der Tobenden, murmelte etwas, packte die beiden Griffe des Rollstuhls und schob ihn hinaus. In der Tür drehte sich die Kranke um, winkte mit königlicher Geste zurück und sagte laut: »Aber nur zu gern, mein Lieber, gern gehe ich mit Ihnen spazieren, diese Leute sind doch abgrundlangweilig, finden Sie nicht?«
    Gelbe Bluse zog nicht schnell genug ihr Taschentuch, ihr Lachen steckte die anderen an, schließlich lachte sogar die mit den schmalen Lippen. So plötzlich, wie es begonnen hatte, erstarb das Gelächter, alle starrten vor sich auf die leeren Teller, der Junge im Nehru-Anzug schrieb mit einem schmalen langen Finger eine unsichtbare Botschaft aufs Tischtuch.
    Der große Dicke zog eine Uhr aus der Westentasche, ließ
den Deckel aufschnappen, im selben Moment blickten die anderen Männer auf ihre Armbanduhren, der Schmale mit der viel zu schwer gefassten Schildpattbrille so diskret, dass es besonders auffiel, einer von den Jungen, nein, jung war der nicht mehr, nur jünger, hob die Hand, schob mit großer Geste den Ärmel und dann die Doppelmanschette aus dem Weg, schüttelte zweimal den Kopf und zeigte auf seine Uhr, als wollte er sie in den Zeugenstand rufen.
    Hanka und Alban räumten die Teller ab.
    Lisa beeilte sich, die Wassergläser neu zu füllen.

Roland, 39
    Und wieder geruhen sie nicht zur Kenntnis zu nehmen, was ihnen nicht passt. Das halten sie wohl für Savoir-vivre, wie sie sagen würden. Oder Stil? Egal. Selber schuld, dass ich mir das antue. Ich hätte nicht kommen müssen, bin ja gar nicht verwandt, bloß der Ex von einer ihrer Enkelinnen. Lilly ist auch eine Ex, aber sie hat’s gut, liegt bequem in ihrem afrikanischen Krankenhaus, lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Es sei ihr vergönnt, aber sie hat doch immer die besseren Karten. Irgendwie war es mir ein Bedürfnis, Abschied zu nehmen von Ditta. Sie war die Letzte, die Letzte ihrer Generation, die letzte Zeitzeugin in dieser Familie – warum denke ich eigentlich bei Zeitzeugin immer nur an eine, die den Zweiten Weltkrieg bewusst erlebt hat? Zeitzeugen sind wir doch alle, Zeugen für unsere Zeit, und aus der Nähe lässt sich nicht sagen, ob diese unsere Zeit es einmal nötig haben wird, dass einer Zeugnis ablegt für sie. In England gibt es ein Sprichwort: Er lügt wie ein Augenzeuge. Gilt wohl auch für die meisten Zeitzeugen. Ich glaube, sie hat sich bemüht, nicht zu lügen, wenigstens ihre Wahrheit zu sagen, wenn schon nicht
die
Wahrheit. Wer kann das überhaupt? Es ist so unvorstellbar, dass sie tot sein soll. Ein Baum war sie, ein riesiger alter Baum, ein bisschen schief, ein bisschen zerzaust vom Sturm, sehr knorrig, die Rinde zerklüftet, aber erstaunlich stark. Ich kann mir

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