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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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Nacken auf. So ein Satz wäre Ditta nie über die Lippen gekommen. Vielleicht war ich deshalb so gern bei ihr, sie konnte sich freuen über ein paar Blumen, über die italienischen Mandelmakronen, die sie so gern aß – und im Gegensatz zu meiner Mutter schimpfte sie nie darüber, wie teuer die waren. Sie freute sich einfach, genauso wie über eine Tasse Tee, eine Anekdote. Wem werde ich jetzt den Gesichtsausdruck des Totengräbers zu schildern versuchen, als er niesen musste und die Erde auf seiner kleinen Schaufel in alle Richtungen wegspritzte? Nach links und rechts hat er den Kopf gedreht und sehr empört dreingeschaut dabei, als wollte er feststellen, wer sich da so ungebührlich verhalten hatte. Claudia würde das nicht komisch finden, leider, und Friederike erst recht nicht. Arme Friederike. Sie hat von ihrer Mutter nur die lange Nase geerbt.
Looking down one’s nose
, sagen die Engländer. Finde ich viel anschaulicher als unsere Phrase »von oben herab«. Da könnte es sich schließlich auch um einen wohlwollenden Blick auf kleine Kinder handeln, die auf dem Teppich spielen. Das wäre wieder eine Bemerkung für Ditta gewesen, sie hätte mir dafür ein schiefes Grinsen geschenkt und die Brauen gehoben. Ich brauche einen Cognac.

Alban betrachtete kopfschüttelnd den Kübel voll mit Essensresten und stellte wieder einmal fest, dass man damit mindestens drei Schweine füttern könnte. Seiner Großmutter hätte diese Verschwendung das Herz gebrochen, sagte er, aber in diesem Land werfe man in einem einzigen Gasthaus in einer Woche mehr in den Müll, als ein ganzes Dorf bei ihm zu Hause für ein Festessen gebraucht hätte. Bärbel war durchaus seiner Meinung. Als sie ein Lehrling war, hätte ein Bauer jeden zweiten Tag die Kübel abgeholt mit seinem Pferdewagen, aber heute sei das alles verboten. »Eine Sünde ist das. Ihr kennt doch die Sage von der vereisten Alm?« Lisa widerstand der Versuchung, darauf hinzuweisen, dass sie die Geschichte schon oft genug gehört hatte, um sie wortwörtlich mitsprechen zu können.
    Alban stand auf einem Bein, wechselte auf das andere.
    »Tun dir die Füße wieder weh?« , fragte Bärbel mitten im Text, als gehöre es zu ihrer Geschichte.
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Morgen bring ich dir eine Salbe mit Weinlaub, das hilft. Und dann erhob sich ein ungeheurer Sturm, es blitzte und donnerte und hagelte und Schnee und Eis bedeckten die grünen Wiesen und die Frevler erstarrten zu Stein.«
    »Frevel« , wiederholte Alban und trug die vollen Kübel hinaus.

Alfred Schreiber, 91
    Wenn ich nicht bald aufstehe und sage, was mir Ditta aufgetragen hat, sind die Ersten längst gegangen, bevor ich anfange. Es kommt mir alles so unwirklich vor, diese Reihe von Gesichtern, der junge Mann hat sich Dittas Nase angeeignet, das muss Patricia sein, die aus Dittas Augen skeptisch um den Tisch blickt, der da drüben sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, aber er trägt den Kopf wie sie, neigt sich zu seiner Nachbarin wie sie. Ich bin wütend auf alle, die ein Stück von ihr tragen, als stünde es ihnen zu, es ist mir völlig klar, wie lächerlich mein Zorn ist, natürlich ist Ditta nicht deshalb abwesend, weil andere mit ihrer Nase, ihren Augen, ihren Gesten herumlaufen. Niemand hat sie bestohlen, das ist Unsinn, aber diese ganze Gesellschaft ist zusammengehalten durch Ditta, und eine Abwesenheit im Zentrum, das geht doch nicht, im Zentrum muss etwas sein, nicht diese Leere. Ich bin in eine Versammlung von Schatten geraten. Es hat sich längst nicht bis zu mir durchgesprochen, dass Ditta nicht mehr lebt. Sie, die so lebendig war, die allem um sie herum Leben eingehaucht hat. Es interessiert mich überhaupt nicht, ob man mich dafür als Romantiker belächelt. In meinem Alter hat man das Recht, romantisch zu sein, und wenn das jemand als dritte Pubertät sehen will, bitte sehr, bedienen Sie sich, kein Problem.
    Warum fühle ich mich wie im Zug? Als wären diese Leute meine Reisegenossen auf einer Fahrt, von der keiner weiß, wohin sie führen soll. Anfang April saßen wir im Zug einandergegenüber. Ich habe deine spitzen Knie gespürt, Ditta, wenn du dich vorgebeugt hast, in den Adlitzgräben blühten die wilden Kirschen und der Weißdorn, auf den Hängen tanzten die zarten Zweige der kaum grün angehauchten Lärchen und Birken mit dem Wind. »Du musst im nächsten Tunnel die Augen schließen«, hast du gesagt. Seltsam war das, als ich die Augen schloss, sah ich meine Iris, graue Strahlen stürzten

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