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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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Gewitter losbreche. Niemand könne ihr weismachen, dass es kein Gewitter geben würde, dafür habe sie ein untrügliches Gefühl, das einzige Erbstück von ihrer Großmutter, das ihr geblieben sei, und Lisa müsse gar nicht so überlegen grinsen, sie werde schon noch sehen. Den anderen würde sie keine Träne nachweinen, aber die zwei kleinen Buben, die könnten doch nichts dafür, um die kümmere sich auch keiner, seit einer Stunde schon kröchen sie unter dem Tisch herum und ihr Vater starre nur vor sich hin und die Mutter sitze da und studiere ihre Hände, was sei das für eine Mutter, bitte schön, und der Kleinere habe eine Rotzblase so groß vor der Nase. Sie breitete die Arme aus, zeigte etwa die doppelte Größe eines Fußballs. Alban schüttelte milde den Kopf. »Übertreibt man zu groß, glaubt niemand mehr als Hälfte von wahr.« Hanka drehte ihm den Rücken zu. Die Köchin hob die Brauen und gab ihm einen Wink mit den Augen. Er schüttelte das karierte Trockentuch auf seinem linken Unterarm aus, legte es sorgfältig gefaltet wieder an seine Stelle und begab sich ins Extrazimmer, ein Mann mit einer Mission.

Eberhard, 73
    Gleich haben wir es überstanden. Nicht so, wie du es überstanden hast, ma belle mère, aber immerhin. Und mit einigem Anstand, jetzt einmal abgesehen von dem Auftritt meines Ex-Schwiegersohnes. Anna hätte den Kerl nie heiraten dürfen, ich war ja von Anfang an dagegen, aber wer hört heutzutage schon auf seinen Vater? Wie gern ich auf meinen Vater gehört hätte. Nicht einmal eine richtige Erinnerung habe ich an ihn, nur ein verschwommenes Bild, wo er mich hochhebt und im Kreis schwenkt, ich glaube, das muss von einem seiner zwei Heimaturlaube sein. Wieso habe ich die Zeit vergessen vor meinem fünften Geburtstag, als er noch jeden Abend nach Hause kam? Andere Leute haben sogar Erinnerungen, die bis in ihr zweites Lebensjahr zurückgehen. Behaupten sie jedenfalls. Es ist wohl schwer festzustellen, was echte Erinnerungen sind und was man selbst gebastelt hat aus Geschichten und Fotos. Wenn meine Mutter, selten genug, von meinem Vater sprach, dann so, als hätte es mich nicht gegeben. Woran ich mich genau erinnere, das ist der Mann in Uniform, den ich vom Fenster aus sah. Ich rannte zu meiner Mutter und rief: Der Papa kommt! Es war aber der Kamerad, der seine Erkennungsmarke brachte, seine Uhr und einen braunen, ziemlich dicken Umschlag. Als er gegangen war, saß meine Mutter am Küchentisch, starrte mich an und wiederholte immer wieder: Wie hast du mir das antun können? Damals glaubte ich, sie meinte mich, ich sei schuld an Vaters Tod »auf dem Felde der Ehre«. So sagte man damals, ganzohne Ironie. Nie
auf dem Feld
, immer
auf dem Felde.
Ein einziges Mal habe ich den braunen Umschlag aus ihrer Wäschelade genommen, aber bevor ich ihn aufmachen konnte, riss sie ihn mir aus den Händen und verprügelte mich zum ersten und einzigen Mal. Wenn ich mich hier umschaue, frage ich mich, ob die Jungen überhaupt zu unseren Beerdigungen gehen werden. Sie besuchen uns ja so gut wie gar nicht mehr, zum letzten Geburtstag bekam ich gerade noch eine Karte
Liebe Grüße, Anna,
von Thomas kam am nächsten Tag eine SMS. Manchmal frage ich mich, wozu wir gearbeitet, wofür wir gelebt haben. Hinter uns die Sintflut? Nein, nein: Vor uns die Sintflut. Das trifft es besser, nicht nur wegen der Klimakatastrophe, die uns ja buchstäblich damit droht. Ditta, du hast es gut. Was ist es, das uns daran hindert, in deine Fußstapfen zu treten? Ich habe einmal einen Film gesehen, den Titel habe ich natürlich vergessen, da hat ein sterbender Vater in seinem Krankenhauszimmer seine Kinder der Reihe nach angeschaut, genickt und gesagt: Es war gut. Ich hab nasse Augen bekommen, wenn ich nur daran denke, könnte ich heute noch heulen. Wozu sollte ich sagen, dass es gut war? Zu meiner Frau, die mich verachtet, es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen, ich weiß, sie verachtet mich, zu Anna, die immer tiefer in ihre Verbitterung einsinkt, zu Thomas, der alles beginnt und nichts zu Ende führt, zu Jonathan, der sein Talent vergeudet, statt es zu nutzen, zu Marco, der nicht einmal bereit ist, zum Begräbnis seiner Urgroßmutter zu kommen? Patricia, ja, aus der könnte etwas werden, vor allem ist sie lebendig im Gegensatz zu den anderen, aber sie geht mir aus dem Weg, will nichts von mir wissen. Ich bin nur froh, dass ich mich damals nicht selbstständig gemacht habe, sonst müsste ich heute zusehen, wie mein Lebenswerk

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