Grün war die Hoffnung
Treibstoff und zerstörerische Wut. Einen tauglicheren Vater gab es nicht – zeigt mir einen, das war seine Einstellung, zeigt mir erst mal einen. Er war Sierra seit ihrem vierten Lebensjahr Vater und Mutter zugleich gewesen, er hatte sie vor ihrer Großmutter retten und ihr sagen müssen, daß ihre Mami nicht mehr zurückkommen werde, weil sie vom Antlitz der Erde verschwunden sei, wie ein Geist oder ein Windhauch. Man stelle sich das in allen Einzelheiten vor. Man versuche einmal, aus der Höhle des Schlafes hinauszukriechen zu den nächtlichen Schreien und Angstattacken eines untröstlichen Sechzehn-Kilo-Bündels aus Ratlosigkeit und Zorn, oder sie im Kindergarten abzusetzen, als alleinerziehender Vater auf dem Weg zu einer geistlosen, seelenabtötenden Arbeit, aber sie läßt einfach den Türgriff nicht los, da helfen keine Witzchen und kein gutes Zureden, und neben dem Auto lassen Kindergärtnerinnen und mitleidige Mütter die Köpfe hängen wie am Ast verdorrte Früchte. Ein mutterloser Teenager. Tierwater hatte sein Leben dafür eingesetzt, das gutzumachen – oder wenigstens zu lindern, zu bandagieren, die Wunde zu küssen, um sie heilen zu lassen –, das konnte ihm niemand absprechen. Nicht Richter Duermer und das Kinderschutzprogramm von Josephine County, nicht einmal der Oberste Gerichtshof.
Die Tatsachen aber lagen so: er saß in Los Angeles, halb erdrückt von einem üblen Blues aus Hitze und Smog und multikulturellem Schweiß, und sie saß in Oregon, wo die Bäume in den Himmel wuchsen und die Luft kühl und würzig war – in Oregon im Knast. Oder einer Jugendstrafanstalt. Alles dasselbe. Er durfte sie nicht besuchen, durfte ihr nicht schreiben, ja nicht einmal telefonieren ließen sie ihn mit ihr – weil er einen zu schlechten, zu verderbten Einfluß auf sie hatte. Er war ein Ungeheuer. Ein Verbrecher. Ein Freak. Dreieinhalb Wochen waren vergangen, und er hatte nichts getan, als auf der Couch zu liegen und an die Decke zu starren. Er wollte in Oregon sein, nahe bei ihr, nur um auf dem gleichen Boden zu gehen, die gleiche Luft zu atmen wie sie, aber davon wollte sein Anwalt Fred nichts wissen. Das würde mehr schaden als nützen, behauptete er. Halt dich da raus. Komm nicht mal in die Nähe der Staatsgrenze, außer wenn du vorgeladen wirst – denk nicht mal im Traum dran. Und keine Angst: wir werden Sierra in Andreas Obhut überstellen lassen, kein Problem – egal, was mit dir passiert.
Traurig, aber wahr: seit er sich gegen Kaution auf freiem Fuß befand, war er nur einmal nach Oregon gefahren – die Küste rauf und wieder runter in achtundvierzig Stunden, gemeinsam mit Andrea und Fred, zu einer Anhörung durch den Richter, bei der es um den Entzug des Sorgerechts ging:
Richter Duermer (Dreifachkinn, in seiner Robe schwabbelnd, große hervorquellende Seelöwenaugen): Können Sie Gründe vorbringen, weshalb die minderjährige Sierra Sarah Tierwater zurück in die familiäre Obhut ihres Vaters und ihrer Stiefmutter entlassen werden sollte, gegen die beide in diesem County mehrere Verfahren anstehen?
Fred (klein und kahl, ein lodernder Docht der Lebensenergie und hellauf empört): Aber Euer Ehren, bei allem Respekt, dabei handelte es sich um einen friedlichen Bürgerprotest, meine Mandanten haben ihr Recht auf die Freiheit der Meinungsäußerung und der öffentlichen Versammlung wahrgenommen...
Richter Duermer (von einem Blatt Papier ablesend, Sierra war nirgends zu sehen): Tätlicher Angriff auf einen Einsatzbeamten, Widerstand gegen die Verhaftung, Fluchtversuch, Gefährdung eines Kindes, Anstiftung einer Minderjährigen zu strafbaren Handlungen. Also wirklich, Herr Verteidiger, das sind schwerwiegende Vorwürfe, und bis das Urteil darüber gefällt ist, kann ich es unmöglich zulassen, daß dieses Kind den Eltern übergeben wird.
Sierras Anwalt (ein Rauschebart im dreiteiligen Anzug, Nase und Kinn kaum wahrnehmbar in den Fleischwülsten seines Gesichts): Euer Ehren, im Namen des Volkes beantrage ich, Sierra Sarah Tierwater bei einer Pflegefamilie unterzubringen, bis die Eltern unter Beweis gestellt haben, daß sie geeignete Maßnahmen ergreifen – wie zum Beispiel die Teilnahme an Elternkursen sowie die Unterlassung weiterer krimineller Handlungen –, um das Gericht davon zu überzeugen, daß sie tatsächlich in der Lage sind, dieses Kind zu erziehen.
Fazit? Tierwater, dem immer noch drei Monate Gefängnis wegen seiner Vergehen ins Haus standen, erhielt die Anweisung, einen staatlich
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