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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Sie versuchte, sich zusammenzunehmen, wollte sich überreden, von dem Fensterbrett herunterzusteigen, auf das sie hinausgetreten war. Am allermeisten brauchte sie jetzt Gelassenheit, sie mußte die Dinge durchdenken, ganz nüchtern und methodisch. Marco war verloren. Norm machte sich aus dem Staub. Alles zerfällt, die Mitte hält nicht mehr. Sie sah sich selbst als Witwe von Drop City, wie sie sich an Geoffrey oder den irren George kuschelte, Kartoffeln schälte und eimerweise menschliche Exkremente auf den Misthaufen hinausschleppte, Tag um Tag den schrittweisen Verfall von allem miterleben mußte, was ihr wichtig war und wofür sie geschuftet und gekämpft hatte, und vielleicht würde sie zur Erinnerung an Marco einen Steinhaufen aufschichten, so wie die Indianer das taten, und dann würde sie über die Steine weinen und über ihre zerschundenen Hände und den ganzen unmöglichen naiven, idealistischen Hippietrip, auf dem sie sich befand, seit sie von zu Hause weg war. Was für eine Närrin, dachte sie. Was für eine Närrin war sie doch gewesen.
    Da fiel ihr das Geld ein. Die drei knisternden, blassen silbergrünen Scheine, die in einer Socke unten in der Innentasche ihres Rucksacks versteckt lagen: ihre Versicherungspolice, für Taxi, Bus oder ein Flugzeug, das Ticket zum Abhauen. Ronnie hatte sich davongemacht, Sky Dog und Dale Murray, Rain, Lester und Franklin – und Norm war auch schon unterwegs. Verbie wohnte im Ort drüben mit Iron Steve, in einer Mietwohnung mit Strom und fließend Wasser. Lydia parkte nur kurz, sie sah das hier als höchst vorübergehendes Arrangement, das war allen klar. Warum also sollte sie selbst leiden? Wozu sich in der undankbaren Rolle einer Mischung aus Braut und Waschweib plagen? Sie stand vom Bett auf und ging zu ihrem Rucksack.
    Sie wühlte sich durch ihre Sommertops, die abgeschnittenen Jeans, Sandalen, ein Bündel Briefe, die sie eigentlich hatte abschicken wollen, Campingzeug, Bücher, Sonnenöl, drei, vier, fünf Paar saubere Socken, ihren Poncho, doch als sie zur Innentasche kam, ganz unten, tief drin, war da nichts. Es mußte ein Irrtum sein. Sie kippte den Rucksack auf dem Bett aus, durchsuchte jede einzelne Tasche, jedes Fach und jedes gefaltete Kleidungsstück, legte alles nebeneinander aus, so daß sie es sehen konnte, dabei dachte sie sich, sie würde einfach die achtzehn Kilometer bis nach Boynton zu Fuß gehen, dem Fluß folgen wie einem Highway, direkt ins Three Pup hineinmarschieren und einen der Buschpiloten dort bitten, sie gegen Bezahlung auszufliegen, Howard vielleicht – der würde das bestimmt tun, kein Problem. Sie konnte ihm einen Fünfziger anbieten und den Rest für ein Ticket ohne Rückflug nach Hause behalten – nicht nach Florida oder Hawaii, sondern nach Hause –, und sie sah schon vor sich, wie sie in die Lehne des Flugzeugsitzes sank, eine warme Mahlzeit vom Tablett aß, zivilisiertes Essen, und wie ihre Mutter in der Empfangshalle am JFK Airport stand, mit Sam und dem Hund und ihrem Vater, falls der sich hatte freinehmen können. Da mußte sie weinen. Sie konnte es nicht unterdrücken.
    Lange Zeit saß sie einfach nur da und starrte auf das Muster ihrer Habseligkeiten, die auf dem Bett verstreut lagen. Dann ging sie noch einmal alles durch, sie schluchzte, wischte sich mit dem Ärmel über Nase und Augen. Schließlich stand sie auf und suchte das ganze Haus ab, sah auf jedes Regalbrett, blätterte sämtliche Taschenbücher durch, obwohl sie genau wußte, daß sie das Geld nicht irgendwo hingesteckt hatte – außer sie verlor den Verstand oder hatte sich in irgendeine andere Dimension hineingeträumt. Sie verfolgte ihre Schritte zurück. Durchsuchte nochmals den leeren Rucksack, und noch einmal, und schließlich schlitzte sie mit ihrem Federmesser das Futter der Tasche auf, doch was sie dann in der Hand hatte, war nur Nylon, marineblaues Nylon, made in Taiwan.
    Das Geld hatte sich ja nicht in Luft aufgelöst, ihm waren keine Beine zum Davonlaufen gewachsen. Jemand hatte es gestohlen, das war die einzige Erklärung, irgendein Dieb, der die Nerven und die Zeit dazu gehabt hatte, ihr Gepäck hinter ihrem Rücken zu durchsuchen – Merry, Maya, Jiminy, Marco. Aber nein. Keinem von ihnen traute sie das zu, und außerdem hatte ja niemand gewußt, daß das Geld dort war – es war ihr Geheimnis, ihr Notgroschen. Sie war verzweifelt. Dies war das Ende von Brüder- und Schwesterlichkeit, so endete also alles. In Verrat. Selbstsucht. Gemeinheit. Und in

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