Grün war die Hoffnung
Wölfe über den hartverkrusteten Schnee auf dem Proszenium des Flußufers vorüberhuschen sehen.
Was die Uhr anging, so gab sie nicht nach. Ja, sie hatte sich ihrem Mann anvertraut, und ja, sie verließ sich auf sein Urteilsvermögen und schätzte es hoch ein, und sie genoß es, von ihm ernährt und beschützt zu werden. Und sie verstand gut, was er meinte. Hier draußen im Busch zu leben, das bedeutete ein Dasein in primitiver Zeit, zeitloser Zeit, und wenn man Uhren besaß, die die künstlichen Minuten der von Menschen erfundenen Stunden anzeigten, dann sabotierte das den Sinn der Sache, es unterminierte das Ethos der Natur. Aber man mußte Zugeständnisse machen, so sah sie das, sonst würde man ja noch in Höhlen wohnen und Stöckchen aneinanderreiben – und was war mit der Kettensäge, der Bohrmaschine, der Angel aus Glasfaser und dem Außenborder, den er im Frühjahr zu kaufen plante? Das waren nötige Dinge, argumentierte er, das war Werkzeug, das ihnen half, besser zu leben, und er mußte ja gerade ihr bestimmt nicht erklären, wie dünn der Faden war, der ihr Leben zusammenhielt, hier draußen unter dem erbarmungslosen Himmel, wo in jeder Minute jeden Tag das Verhängnis lauerte.
Ja eben. Für ihn waren es Kettensäge und Außenborder, aber für sie waren es die Uhr, der Kalender, das Thermometer. Ohne den Zeitmesser wüßte sie nicht, ob es sechs Uhr früh oder sechs Uhr abends war, und da konnte man natürlich einwenden, daß das keinen Unterschied machte, weil Morgen und Abend abstrakte Gedankengebilde waren, so wie die Wochentage oder die Kalenderzählung ab Christi Geburt, als hätte das Bedeutung, als wäre es real, als würde Gott existieren und als wäre der Beweis seiner Existenz eine objektive Tatsache. Ihr war das egal. Sie mochte Zahlen und Ziffern, sie wollte wissen, daß es der achtzehnte Dezember Anno Domini neunzehnhundertsiebzig und sechs Uhr fünfundzwanzig war, daß das Thermometer vorhin minus fünfunddreißig Grad Celsius gezeigt hatte – und vielleicht würde sie auch gleich noch mal aufstehen und draußen vor der Tür überprüfen, ob es in der Zwischenzeit noch tiefer gefallen war. Vielleicht. Und vielleicht würde sie ein Tagebuch anlegen, für die ganz einfachen Sachen, nur die Fakten – Tag und Uhrzeit, Temperatur, was sie gegessen hatten, was es am Himmel, auf den Bäumen, auf dem Boden zu sehen gab. Das war ihre Angelegenheit, ihr Ding , wie Star es wohl ausdrücken würde, und wer wollte ihr das verwehren? Nicht Sess. Sess bestimmt nicht. Also sollte er ruhig mitten in der Nacht vom Ticken der Uhr aufwachen. Es würde ihn nicht umbringen.
Sie wollte eben aufstehen und genau das tun – aufs Thermometer sehen –, als sie draußen einen aufrechten Schatten sah, der sich von den Bäumen trennte und die Uferböschung zum Haus hinaufkam, mit langsamen, ruckartigen Bewegungen wie eine Gestalt aus einem Traum. Pamela hielt sich den Zigarettenstummel an die Lippen, rauchte ihn bis zum Filter herunter und sah gespannt hinaus. Die Gestalt kam näher, sie ging vornübergebeugt, stapfte durch den Schnee, die Gliedmaßen teilten und vereinigten sich, teilten und vereinigten sich, und dann fühlte sie, wie etwas in ihr vor Freude hüpfte: es war Star, die sie besuchen kam und ihre Grübelei unterbrechen würde. Das war ja – wie würde Star sagen? Es war total stark. Es würde eine Party geben.
Sie war schon an der Tür, noch ehe Star klopfen konnte, weil sie befürchtete, die Freundin könnte die dunklen Fenster sehen und in ihr Hippiecamp zurückgehen. »Na, aber hallo«, begrüßte Pamela sie und zog sie ins Haus hinein, »was für eine Überraschung, was für eine nette Überraschung, und frohe Weihnachten, hab ich dir schon frohe Weihnachten gewünscht?«
Star nahm die Tasse Tee gern an, die teure Darjeeling-Auslese, die Pamela für Besucher in einer luftdicht verschlossenen Dose aufbewahrte, und Pamela flitzte im Zimmer hin und her, schürte das Feuer, entzündete Lampen, stellte Salzkekse, Käse, Brot, Butter, Mehrfruchtmarmelade samt Löffeln und einem Messer auf den Tisch, dabei redete sie pausenlos, quasselte drauflos, als wäre sie die Gefangene eines Stammes von Taubstummen an einer einsamen Küste gewesen. Es dauerte rund eine Viertelstunde, bis sie sich bewußt wurde, daß Star ihr gar nicht richtig zuhörte. Star sagte nichts oder kaum etwas – antwortete nur mit Ja oder Nein auf den Schwall von Fragen, mit dem Pamela sie überschüttete, nickte oder knurrte oder
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