Grün war die Hoffnung
wieder neues Trinkwasser aufnehmen konnte. Es war soweit gekommen, dass sie sich beinahe scheute, den Hahn zu öffnen, aus Sorge, sie könnte einen einzigen kostbaren Tropfen verschwenden. Wie ging noch mal dieses Gedicht, das sie in der High School gelernt hatte? »Wasser, Wasser überall/ Und nirgends ein Tropfen zu trinken.«
Die Ballade vom Seemann, das war es. Die Ballade vom alten Seemann. Er hatte unbedingt diesen Vogel töten müssen, nicht? Den Albatros. Wie sah ein Albatros eigentlich aus? Groß und weiß, nach der Illustration in dem Buch zu urteilen, das sie in der Bibliothek ausgeliehen hatte. Wie ein Dinosaurier vielleicht, nur nicht so groß. Inzwischen wahrscheinlich ausgestorben. Aber wenn Albatrosse nicht ausgestorben waren und es einem davon einfallen würde, herbeizufliegen und sich auf den Bug des Bootes zu setzen, würde sie nicht im Traum daran denken, ihn zu erschießen. Nein, sie nicht. Erstens hatte sie keine Waffe, und zweitens hätte sie auch gar nicht gewusst, was sie damit machen sollte, aber darum ging es ja gar nicht, oder? Wenn sie aus diesem Gedicht irgend etwas gelernt hatte – und sie konnte die schrille, strenge Stimme von Mr. Parminter, ihrem Englischlehrer in der zwölften Klasse, hören, die aus den Tiefen ihres Unbewussten aufstieg –, dann etwas über die Natur, über ihre Kraft und Größe. Setz dein Glück nicht aufs Spiel. Störe nicht das Gleichgewicht. Lass den Albatros am Leben. Lass überhaupt alle Lebewesen am Leben … außer vielleicht Hummer. Bei dem Gedanken an Mr. Parminter und ihre Schulzeit, die schon ein Jahrhundert zurückzuliegen schien und in der ihr ganzes Leben aus Gedichten und Romanen und Lehrsätzen und Gleichungen bestanden hatte, lächelte sie im Dunkeln. Sie konnte kaum glauben, dass seit ihrem Schulabschluss nur vier Jahre vergangen waren.
Sie schwang die nackten Füße aus der Koje. Der Boden fühlte sich fest an, kühl und ein wenig feucht. Sie trug ein Flanellnachthemd, das bis zu ihren Füßen reichte, auch wenn sie wünschte, sie könnte für Till etwas Durchsichtigeres anziehen – doch das würde warten müssen, bis sie wieder zu Hause in ihrem Schlafzimmer waren. Sie war anständig und sittsam, nicht wie die Frauen, die ihre in Übersee kämpfenden Männer bei der ersten Gelegenheit betrogen hatten, und sie hatte sich einfach nicht wohl dabei gefühlt, Warren auf so beengtem Raum etwas von sich zu zeigen, auch wenn er Tills Bruder war. Sie hatte gesehen, mit welchen Blicken Warren sie manchmal musterte: Sie waren im Grunde kaum anders als die Pfiffe und Rufe und anzüglichen Bemerkungen, die sie hatte erdulden müssen, seit sie in der achten Klasse einen Busen bekommen hatte. Sie machte ihm keine Vorwürfe. Er war eben ein Mann. Er konnte nicht anders. Und sie war zwar stolz auf ihre Figur – die war das Beste an ihr, denn sie würde nie das sein, was man als hübsch bezeichnete, jedenfalls nicht im landläufigen Sinne –, aber sie wollte weder ihn noch irgend jemand sonst auf irgendwelche Gedanken bringen. Sie war eine Frau, die nur einem einzigen Mann gehören wollte, und damit war alles gesagt. Im Gegensatz zu Sandra, die aussah, als hätte sie jede Menge Erfahrung, und vor einer Woche, als sie mit dem Boot nach San Pedro gefahren waren, in einem zweiteiligen Badeanzug herumstolziert war – und dabei war der Wind so kühl gewesen, dass sie am ganzen Körper eine Gänsehaut bekommen hatte und sich bei der Rückkehr in den Hafen in Warrens Jacke hatte wickeln müssen. Immerhin: Sandra hatte diesmal nicht mitkommen können. Sie hatte einen »Auftritt« in Nord-Hollywood, was immer das hieß, aber das war schließlich nicht Beverlys, sondern Warrens Sorge.
Sie schlüpfte in die Toilette, trank ein Glas Wasser und dann noch eins. Ihr war flau. Das letzte Bier war wohl eines zuviel gewesen. Sie fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, das schlaff und kraftlos war, obwohl sie es am Morgen gewaschen und gelegt hatte. Genaugenommen gestern morgen. Aber sie war jetzt auf hoher See und würde sich damit abfinden müssen – wie auch Till, der immer erwartete, dass sie adrett und zurechtgemacht war und sich präsentierte wie eine dieser Schauspielerinnen in den Illustrierten. Sie bediente die Handpumpe der Spülung, wusch sich die Hände – wertvolles, kostbares Wasser –, öffnete leise die Tür und schloss sie wieder. Als sie sich in die Koje legte, nahm sie sich vor, ein Kopftuch umzubinden, wenigstens bis sie angekommen waren und sie
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