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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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verschiedenen Lehrern und umgeben von den unzähligen spöttisch grinsenden Gesichtern ihrer Altersgenossen, und wenn sie keine echte Schönheit gewesen wäre, die Verkörperung der feuchten Träume eines jeden halbwüchsigen Jungen (hier extrapoliert er ein wenig), hätte sie das nicht überlebt. Rita arbeitete als Kellnerin. Ihr Freund – er war inzwischen ein alter Mann – wurde wieder gesund. Beinahe jedenfalls. Aber er fand keine Arbeit, denn in Oxnard gab es keine Schaffarmen, und sein Bein machte ihm noch immer zu schaffen und tat höllisch weh, wenn er länger als zehn Minuten stehen musste, und in seinem Alter wollte er natürlich nicht irgendeinen Mindestlohnjob in einem Haushaltswarengeschäft oder so annehmen, und so fing er wieder an zu trinken. Und Rita ebenfalls. Die beiden hielten es ein halbes Jahr lang aus, und dann war er eines Tages verschwunden, und Anise wurde – ganz langsam und vorsichtig, durch Nachahmung und indem sie ihre angeborene Intelligenz, die Narben der Isolation, ihre Stimme und ihre Gitarre für sich nutzte – zu Anise.
    »Nein«, sagt er. »Nein, das hat sie mir nicht erzählt.«
    Anise streckt spielerisch die Hand aus und drückt seine Wade. »Du weißt, dass ich es dir erzählt habe«, sagt sie. »Ungefähr sechstausendmal.«
    »Ja«, sagt er, »okay. Aber ich will es aus erster Hand wissen.«
    Er hat ein Sandwich in der Hand und – ein Blick auf die Uhr, um sich zu überzeugen, dass es nach zwölf ist – auch ein Bier. Warum nicht? Warum sich nicht amüsieren, eine Party feiern, wenn ihm danach ist? Auf dem Meer herrscht noch Freiheit, auch wenn die Insel abgesperrt ist wie eine Gefängniszelle, nur dass die Gefangenen draußen sind.
    Ritas Stimme klingt heiser und abgenutzt, doch sie erzählt die Geschichte mit einer gezwungenen Heiterkeit, als spielte nichts davon mehr eine Rolle, als wäre sie über den Schmerz der Zwangsräumung und der Trennung von ihrem Freund und schließlich auch von ihrer Tochter längst hinweg, als wäre ihr Leben voller Untätigkeit und Kneipengespräche in einem Nest wie Port Townsend genau das, was sie sich immer erhofft hat. Er hört zu wie ein Historiker, die eine Hand hält das Steuer, die andere hebt abwechselnd Sandwich und Bierdose an den Mund, und dann liegt Smugglers’ Cove vor ihnen, und in demselben Augenblick biegt der Kutter der Küstenwache mit blinkenden Lichtern und irgendeinem Idioten an Deck um die gegenüberliegende Landzunge und fährt in die Bucht ein. Er kann es nicht fassen. Aber er schiebt Sandwich und Bierdose beiseite und steuert hart backbord, als wäre das in seinen Genen verankert, und schon fahren sie wieder in die Richtung, aus der sie gekommen sind, harmlose Ausflügler, die um die Insel herumschippern, Bootsbegeisterte, die einen der letzten herrlichen Herbsttage nutzen.
    Klopft sein Herz? Allerdings. »Haben wir nicht vorhin erst von hohem Blutdruck gesprochen?« sagt er und versucht ein Lachen. Die Frauen sehen über die Schultern zurück, ihre Begeisterung ist wie weggeblasen. »Folgen sie uns?« fragt er mit unbewegter Stimme.
    Er wird sich nicht umdrehen, so wie er auch nicht in den Rückspiegel sieht, wenn ihm auf der Schnellstraße ein Polizeiwagen folgt, denn seine Theorie besagt: Wenn du zu aufgeregt bist, nageln sie dich. Sei respektvoll, lass sie merken, dass du sie bemerkt hast, und fahr immer schön hundert, ohne Eile, ohne Angst.
    »Nein«, sagt Anise, »nein, ich glaube nicht.«
    Raus aufs Meer, mit halber Kraft, der schrundige, abfallende Rücken von San Pedro Point liegt scharf umrissen vor ihnen. Er sagt nichts mehr. Sieht nur, wie das Kap näher kommt, und ändert den Kurs ein wenig nach Nordosten, als wollten sie zum Festland zurückkehren, und das ist es, was auch Anise und ihre Mutter denken: dass der Tag gelaufen ist, dass sie unterlegen sind, dass sie besiegt nach Hause fahren. Und dann verschwindet die Bucht und mit ihr die Küstenwache – die Spitzel in Scorpion Bay haben sie wohl doch nicht per Funk verständigt –, und als das Kap hinter ihnen zurückbleibt, ändert er wieder den Kurs und fährt nach Westen, praktisch denselben Weg, der sie von Scorpion hierhergebracht hat.
    Anise und ihre Mutter sind in ein Gespräch vertieft. Jeder Hügel, jeder Felsen, jede guanobespritzte Steilwand bringt eine Flut von Erinnerungen, und so haben sie den Kurswechsel nicht bemerkt oder jedenfalls nicht kommentiert. Doch jetzt, da seine Absicht unverkennbar ist, hebt Rita den Kopf und sagt: »Wo

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