Sommerflimmern (German Edition)
C harlie! Wir sind frei, frei, frei!«
Wie ein Kreisel wirbelt Anna um mich herum, schleudert ihre überdimensionale Lederflicken-Tasche in die Luft, und wirft sich mir so überschwänglich in die Arme, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Ich drücke sie lachend an mich, doch als sie den Kreisel mit mir zusammen versucht, befreie ich mich schnell und hebe ihre Tasche auf.
»Anna …«
Ich schaue mich auf dem Vorplatz unseres Gymnasiums um, aber keiner scheint uns zu beachten.
»Was denn Anna? Wir haben es geschafft! Wir haben es verdammt noch mal geschafft! Und zwar mit allem Schnickschnack! Wir zählen zu den Besten! Und jetzt haben wir den ganzen Quatsch hinter uns und sind endlich frei! Nie wieder Borowskis Gespucke in Englisch, nie wieder Frau Arens’ hysterisches Gezeter in Mathe …«
»Anna! Nicht so laut.«
Aus der Aula fließt noch immer der Strom unserer ehemaligen Lehrer, mehr oder weniger stolzer Eltern und erleichterter Schüler. Einige wedeln mit ihren Abschlusszeugnissen, als wären es Fahnen, mit denen sie soeben erobertes Neuland markieren wollen.
Anna bricht in schallendes Gelächter aus, als sie merkt, dass mir ihr Auftritt als menschlicher Tornado mal wieder ein wenig peinlich ist, senkt dann aber ihre Stimme.
»Hach, Charlie, ich freue mich doch einfach nur sowahnsinnig! Ich könnte im Handstand bis nach Afrika rennen!«
»Und wie willst du übers Wasser kommen?«
»Also, ich – oh! Da kommt mein Bus!« Anna schnappt sich ihre Tasche und spurtet los. »Wir telefonieren!«, ruft sie mir noch über die Schulter zu.
Ich schaue meiner besten Freundin hinterher und muss bei ihrem Anblick unwillkürlich lächeln. Trotz der Zeugnisübergabe sieht ihr schulterlanges, blondiertes Wuschelhaar aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gefallen, und dass sie ihre abgewetzte Lederjacke heute nicht zu Hause gelassen hat, wundert mich kein bisschen. Meine Eltern würden mich glatt enterben, wäre ich heute so erschienen – nicht, dass ich jemals so erscheine. Aber Anna schert es nicht die Bohne, was andere über sie denken und das finde ich ehrlich gesagt ziemlich mutig.
Während ihr Bus an mir vorbeifährt, winke ich Anna noch einmal zu. Sie antwortet mit einer Salve von Luftküssen.
Wow, denke ich plötzlich, das ist das letzte Mal, dass wir uns hier so verabschieden. Ab jetzt wird alles anders. Keine Schule mehr. Ich bin froh, dass Anna auch in Berlin studieren will. Allerdings wird sie erst einmal ein paar Monate unterwegs sein. Während ich schon in den Vorlesungen schwitze, wird sie mit dem Rucksack durch Europa reisen. Ich werde sie hier vermissen.
C harlotte! Träumst du? Charlotte!?«
Eine vertraute Stimme unterbricht meine Gedanken und ich bemerke, dass der Bus mit Anna längst weg ist. Ich drehe mich zu meinem Vater um. Er steht einige Meter hinter mir, sein rechter Fuß tippelt eine Art Dreivierteltakt auf den Asphalt.
»Ich komm ja schon, Paps!«
Als ich ihn erreiche, legt er seinen Arm auf meine Schultern und gemeinsam gehen wir zu einer der Gruppen plaudernder Menschen, die sich vor dem Schulgebäude versammelt haben. Dort steht auch meine Mutter mit – oh, nein – Borowski.
»Herr Borowski hat uns gerade von deinem hervorragenden Englisch vorgeschwärmt!«, sagt mein Vater ein wenig zu laut.
Er kann kaum still stehen und scheint vor lauter Stolz gleich zu implodieren. Das ist niedlich, aber peinlich.
»Papa …«
»Nein, Charlotte, dein Vater hat recht. Du hast meine Erwartungen in der Abschlussprüfung bei Weitem übertroffen! Ich bin mir sicher, dass dir das Praktikum in London keine Schwierigkeiten machen wird … zumindest nicht, was deine Sprachkenntnisse betrifft«, sagt er und findet sich aus unerfindlichen Gründen dabei ziemlich komisch.
»Danke, ich bin auch sehr zuversichtlich.«
Ich bemühe mich diskret, die Spuren seiner feuchten Aussprache von meiner rechten Wange zu entfernen.
Indessen nutzt mein Vater das Stichwort. »Ja, dieses Praktikum ist eine hervorragende Chance für unsere Charlotte, einen tieferen Einblick in ihre zukünftige Arbeit zu bekommen …«
»Es tut mir leid, wenn ich euch unterbrechen muss, Helmut, aber ich bin wirklich der Meinung, dass wir uns auf den Weg machen sollten.«
Danke, Mama.
»Ja, du hast recht, Schatz. Entschuldigen Sie uns, Herr Borowski, wir haben alle noch einiges zu erledigen, bevor wir unsere Charlotte heute Abend ausgiebig feiern werden.«
»Charlotte! Ja, natürlich, dein 18. Geburtstag! Alles
Weitere Kostenlose Bücher