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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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großartige, wuchernde Verjüngung der Flora ringsum, die sie bis zur Taille und höher mit einem gewaltigen Gewebe aus Graugrün und leuchtend blühendem Gelb umgibt.
    Sie geht, so schnell sie kann – querfeldein nennt man das –, als der Regen einsetzt. Es beginnt als ein sanftes Rascheln der Büsche, als würden sämtliche Blätter auf dem Hang, eines nach dem anderen, zum Leben erwachen, und dann wird es stärker, so dass sie die Tropfen auf ihren Mützenschirm prasseln hört und ihre Kälte an den Händen spürt, auf den nackten Knien und im Nacken. Plötzlich riecht alles nach Salbei, es ist ein süßer, reiner Duft, den der nasse Berg unter dem Ansturm des Gusses freisetzt. Unterhalb von ihnen wird die Sicht zur anderen Seite des Canyons weicher, wattiger, verschwommener. Sie fragt sich, warum man diesen Höhenzug El Tigre nennt, wo es hier doch nie Tiger gegeben hat, nicht mal Säbelzahntiger zu Lebzeiten des Zwergmammuts, jedenfalls deuten die Fossilienfunde nicht darauf hin. Nicht einmal Luchse hat es hier gegeben – überhaupt keine Katzen. Aber vielleicht ist es eine Frage der Wahrnehmung, vielleicht sieht die Felsformation von unten aus wie eine seitlich hingestreckte schlafende Katze. Oder vielleicht gab es hier in den alten Zeiten, als die Ranch noch bewirtschaftet wurde, einen Vaquero, der aus dem tiefsten Süden Mexikos stammte, wo nachts Jaguare herumschleichen und sich die Dorfhunde holen, und vielleicht hat er sich an ihnen gerächt und so den Spitznamen El Tigre erworben, bevor er nach Santa Cruz gekommen ist, um Schafe über die Hügel zu treiben. Oder um hier zu sterben. Bei einem Unfall, einem Erdrutsch, bei einem Wetter wie diesem.
    Es ist kein Geräusch zu hören außer dem Rauschen des Regens und dem Flüstern der Blätter und Zweige, die sie beiseite schieben, während sie, immer auf dem Weg des geringsten Widerstandes, durch das Buschland gehen. Almas Oberschenkel sind mit Kratzern übersät, und auch ihre Unterarme würden bluten, hätte sie nicht das Sweatshirt an, das mit jeder Minute schwerer wird. Sie schwitzt. Sie keucht. Sie ist außer Form, weil sie schwanger ist, weil sie zugenommen hat, weil sie abends müde war und ihre Tage am Schreibtisch verbracht hat, weil sie nicht gewandert ist, wie sie es mit Tim getan hat. Sie zuckt zusammen, als vor ihren Füßen eine Wachtel aufstiebt und mit dem Wind davonfliegt, und ist damit noch einmal ein, zwei Meter im Rückstand auf Frazier, der ohnehin schon zehn Meter vor ihr ist. Am liebsten würde sie ihm zurufen, dass er nicht so schnell gehen soll, aber ihr Stolz lässt es nicht zu.
    In diesem Augenblick, als sie gerade aufgeben und hinter ihm zurückbleiben will, hallt der Canyon plötzlich vom wilden Geläut der Hunde wider. Es beginnt mit einem wütenden Gebell, das sich zu einem Chor aus ekstatischem, aus tiefster Kehle aufsteigendem Geheul steigert, und scheint von irgendwo weiter unten zu kommen, wo der Hang an einer von Spalten durchzogenen Kluft abreißt. Frazier wirft einen Blick über die Schulter und stürmt los, genau in die Richtung, aus der das Gebell kommt, und bevor sie nachdenken kann, folgt sie ihm. Die Vegetation stellt sich ihr entgegen, Büsche springen sie an, schlagen gegen ihre Rippen, greifen nach ihren Füßen, schieben sie beiseite, aber sie ist nicht aufzuhalten. Die Erregung der Hunde entfacht ein Feuer in ihr, und jetzt fällt es ihr nicht mehr schwer, Schritt zu halten, ihr Gleichgewicht ist perfekt, sie setzt ihre Füße genau richtig, wehrt einen schnellenden Zweig nach dem anderen ab, springt wie eine Turnerin von Stein zu Stein und holt schließlich Frazier ein, der, die Hände in die Hüften gestemmt, stehengeblieben ist und über die senkrechte, zwölf bis fünfzehn Meter hohe Felswand hinabspäht. Das Gebell kommt näher. Tiefgebückt geht Frazier an der Kante entlang, bis er findet, was er gesucht hat: eine Rinne im Fels, in der bräunliches Wasser fließt. Ohne zu zögern springt er hinein, stützt sich mit den Armen ab, streckt die Beine nach vorn und rutscht auf dem Hintern hinab. Sogleich ist auch sie im Wasser. Es geht zwölf Meter weit hinunter, und am Ende ist ein Absatz, wo sie springen muss. Ihre Handflächen sind aufgescheuert, ihre Waden schmerzen. »Wo sind sie?« keucht sie, nimmt seinen Arm und zieht sich hoch.
    Bevor er antworten kann, erklingen nacheinander drei Schüsse. Es ist ein kurzes, flaches, gereiztes Geräusch – als würde jemand ein nasses Handtuch schnalzen lassen. Die

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