Grün war die Hoffnung
aber andererseits hat sie ja auch noch gar nichts gegessen. Beim Fahren wirft sie ab und zu einen Blick auf das Meer: Durch die schmutzigen Fenster sind die Inseln mal zu sehen, dann wieder nicht, und so weit das Auge reicht, haben die Wellen weiße Kappen. Ob Sonne oder Regen – die Überfahrt wird rauh werden. Und sie wird kotzen. Alles normal.
Annabelle erwartet sie auf dem Parkplatz. Sie hat die Füße auf das Armaturenbrett ihres zweifarbigen Mini gelegt, nippt an einem Chai Latte von Starbucks und blättert in der Zeitung. Sie sieht auf, als Alma in die Parklücke neben ihr fährt, und ihr Gesicht ist neutral – wahrscheinlich trägt sie ihre Kontaktlinsen nicht –, bis sie sie erkennt, mit zwei Fingern winkt und aussteigt. »Alles klar?« fragt sie und beugt sich lächelnd zum Fenster, als Alma den Gurt löst und den Rucksack vom Rücksitz nimmt.
Sie geht in Gedanken die Liste der Dinge durch, die sie eingepackt hat, und spürt die ersten Regungen der Freude, die sie immer überkommt, wenn sie Gelegenheit hat, ihren Schreibtisch zu verlassen und hinaus in die Natur zu gehen, wohin sie eigentlich gehört. Bei Tim ist das vielleicht anders. Aber Tim war auch nicht drei Jahre auf Guam. »Ja«, sagt sie, steigt aus, nimmt den Rucksack in die Hand und wirft mit der anderen die Tür zu. »Ich glaube, ich habe alles. Meinst du, es wird regnen?«
Annabelle senkt eine Schulter, um den Riemen straffzuziehen, und runzelt kurz die Stirn, bevor sie sich aufrichtet und das Gewicht des Rucksacks zurechtrückt. Sie trägt ihr Outdoor-Ensemble: eine rehbraune Jacke und dazu passende Shorts, die aussehen wie von einer Schaufensterpuppe bei Banana Republic, Dreihundert-Dollar-Wanderschuhe, ein rotes Stirnband und einen ebenfalls rehbraunen Tilley-Hut. »Ich würde nicht dagegen wetten«, sagt sie, als sie sich beide gleichzeitig umdrehen und mit den Fernbedienungen ihre Wagen abschließen. Dann gehen sie über den Parkplatz zum Boot. Es ist kein einziger Demonstrant in Sicht.
»Wo sind unsere Freunde?« wundert sich Alma. »In der Kirche?«
Das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, der über ihrem knallroten High-Sierra-Rucksack hin und her schwingt, schreitet Annabelle auf langen Beinen neben ihr dahin. Sie sieht Alma an und grinst, denn sie sitzen im selben Boot: Quotenfrauen. »Heute ist Samstag.«
»Stimmt. Dann schlafen sie wahrscheinlich aus. Ich meine, wann bist du am Samstag morgen aufgestanden, als du auf dem College warst?«
»Oh, ich weiß nicht … Um zehn?«
»Wohl eher gegen Mittag«, bemerkt Alma.
»Gegen Mittag? Wie wär’s mit eins? Oder zwei – höre ich zwei?«
Und das ist komisch, sehr komisch, um Viertel nach sieben an einem Februarmorgen, bei gerade mal zehn Grad über Null, wenn der kühle Geruch des Meeres vom Wasser her zu ihnen treibt und vor ihnen drei Tage ohne Wohnung, Supermarkt, Büro und Wagen liegen, und darum lachen sie, als sie über die Gangway gehen. Oder vielmehr: Sie kichern. Wie Schulmädchen bei einem Klassenausflug.
Das Park-Service-Boot ist ohne jeden Zweifel seetüchtig, aber auch sehr viel kleiner als die Islander und liegt nicht annähernd so ruhig im Wasser. Anfangs sitzt Alma am Tisch in der Kajüte, zusammen mit Annabelle und drei Studentinnen – sie sollen ihre drei Kommilitoninnen ablösen, die in den vergangenen zwei Wochen für Mindestlohn und einen Seminarschein die Füchse versorgt haben –, doch da unten ist es ihr zu eng und überheizt, und sie muss nach achtern gehen und sich in den Wind stellen, bis die Übelkeit vergeht. Es ist kalt. Der Himmel, der vorhin noch so vielversprechend aussah, beginnt sich zu bewölken. Delphine schwimmen im Kielwasser, reiten auf der Bugwelle, springen hoch und reiten sie erneut. Ein Paar Buckelwale – oder sind es Blauwale? – blasen in der Ferne, wilde Wesen in freier Wildbahn, das Festland bleibt rasch hinter ihnen zurück, und die Wellen schlagen düster gegen den Rumpf, als wäre das Boot einzig und allein darum auf den Kanal hinausgefahren, um sie auf ihrem Weg zum Strand aufzuhalten. Nach einer Weile muss sie sich zwischen Übelkeit und Erfrieren entscheiden, und so kehrt sie in die Kajüte zurück, setzt sich steif aufgerichtet an den Tisch, starrt auf den Horizont und zwingt sich, an alles mögliche außer Booten, Decks und das Meer zu denken, bis das Dröhnen der Maschine leiser wird und die lange braune Pier von Prisoners’ Harbor in Sicht kommt.
Frazier ist da, um sie abzuholen, in dem verbeulten Toyota
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