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Grüne Magie

Grüne Magie

Titel: Grüne Magie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Vance
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gefertigt hatte, zupfte an den Saiten und begann zu singen.
    Inga sah still zu. Er war nun der Älteste auf der ganzen Insel, und es schien ihm, als behandelten ihn die anderen mit neuem Respekt. Lächerlich! Was für ein Unsinn! Der Altersunterschied spielte doch kaum eine Rolle! Doch er bemerkte, daß Mai-Mio dem jungen Ama ta Lalau besondere Aufmerksamkeit schenkte, und der Musiker reagierte mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit auf ihre Annäherungsversuche. Inga spürte, wie eine gewisse Melancholie in ihm entstand, und nach einer Weile zog er sich in seine Hütte zurück. In jener Nacht kam Mai-Mio zum erstenmal seit Wochen nicht zu ihm. Inga zuckte nur mit den Schultern und sagte sich, daß alle Mädchen gleich waren.
    Am nächsten Morgen wanderte er über den Strand und näherte sich der Plattform, auf der Takti-Tai sein Boot gebaut hatte. Alles war säuberlich aufgeräumt, und die Werkzeuge befanden sich in einem nahen Schuppen. Im Wald jenseits davon wuchsen prächtige Makara-Bäume, und aus ihren Stämmen wurden die festesten Rümpfe hergestellt.
    Inga wandte sich ab. Mit seinem Kanu brach er auf, um Fische zu fangen, und als er die Lagune verließ, sah er nach Westen. Dort bot sich ihm kein besonderer Anblick dar: Der leere Horizont war ebenso beschaffen wie der im Osten, Norden und Süden. Und doch gab es einen Unterschied: Im Westen verbarg sich das Geheimnis. Während des ganzen Tages verspürte Inga ein unerklärliches Unbehagen. Beim abendlichen Essen musterte er die anderen Bewohner des Dorfes, aber es fehlten die Gesichter seiner besten Freunde. Irgendwann hatten sie alle Boote gebaut, um nach Westen zu segeln – und das Geheimnis in Erfahrung zu bringen.
    Ohne eine bewußte Entscheidung zu treffen, machte sich Inga am folgenden Morgen daran, die Werkzeuge zu schärfen, und er fällte zwei geeignete Makara-Bäume. Er redete sich ein, daß es ihm eigentlich gar nicht darum ging, ein Boot zu bauen: Es konnte sicher nicht schaden, Holz vorrätig zu haben.
    Dennoch begann er am nächsten Morgen damit, die Stämme zu glätten und auf die richtige Länge zuzuschneiden, und anschließend bat er die jungen Männer darum, ihm dabei zu helfen, sie auf die Plattform zu bringen. Niemand schien überrascht zu sein. Alle wußten, daß Rona ta Inga damit begonnen hatte, sein Boot zu bauen. Mai-Mio war nun eine direkte Beziehung zu Ama ta Lalau eingegangen, und während Inga an seinem Boot arbeitete, beobachtete er, wie sie zusammen im Wasser schwammen und planschten – und er empfand dabei nicht einmal einen Hauch von Schwermut. Die Aussicht darauf, bald seine alten Freunde wiederzusehen, gefiel ihm viel besser – die jungen Männer und Frauen, die er seit seiner Kindheit kennengelernt hatte, jene Gefährten, die längst aufgebrochen und dem verlockenden Ruf des Geheimnisses gefolgt waren. Seine Sehnsucht nach ihnen wurde immer intensiver. Mit großer Sorgfalt behandelte er die beiden Stämme, schnitt sie weiter zu, um sie anschließend mit Feuer zu härten. Dann machte er die Plattform an ihnen fest, flocht den Bastunterstand und deckte ihn mit breiten Blättern, um vor dem Regen geschützt zu sein. Aus einem glatten Pa-siao-tui-Schaft stellte er einen Mast her und befestigte ihn an der richtigen Stelle. Später sammelte er Weidenruten, knüpfte sie zusammen und stellte auf diese Weise ein großes Segel her, das er aushängte, damit Wind und Wetter ihm die angemessene Festigkeit verleihen konnten. Er legte Vorräte aus Nüssen, Dörrobst und geräuchertem Fisch an, den er in Sipi-Blätter wickelte. Er füllte Dickfischblasen mit Trinkwasser. Wie lange mochte die Reise nach Westen dauern? Niemand wußte eine Antwort auf diese Frage. Inga hielt es für ratsam, nicht zu wenige Vorräte mitzunehmen: Sobald er die Reise einmal begonnen hatte, konnte er nicht mehr zurückkehren.
    Eines Tages dann war er fertig – an einem Tag, der sich kaum von den vielen anderen seines langen Lebens unterschied. Die Sonne schien hell und warm, und das Wasser der Lagune glitzerte und rollte in kleinen Wellen an den weißen Strand. In Rona ta Ingas Hals entstand ein Kloß, und er war so heiser, daß er kaum ein Wort hervorbringen konnte. Die jungen Leute kamen und bezogen am Strand Aufstellung. Nacheinander segneten sie das Boot mit Wasser. Inga sah in jedes Gesicht, ließ seinen Blick dann über die Hütten schweifen, an den Bäumen entlang, betrachtete noch ein letztes Mal das, was er noch vor kurzer Zeit so sehr geliebt hatte.

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