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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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»Dann feiern wir ’ne Party.«

TEIL EINS
    Abendrätsel

    Pan bläst nur einen Ton.
    Und sofort tanzen alle Wälder.
    JOSHUA STANHOLD, aus Goatboy

    Und plötzlich wußten sie,
    daß das Mysterium der Hügel und der
    tiefe Zauber des Abends
    eine Stimme bekommen hatten und
    zu ihnen sprechen würden.
    LORD DUNSANY,
    aus The Blessing of Pan

KAPITEL EINS
    Frankie folgte dem davonrollenden Wagen die kurze Zufahrt hinunter und beobachtete, wie er die Straße hinunterfuhr. Dann drehte sie sich um und betrachtete das Haus. Der Unterschied zwischen der halbverputzten Ruine, die sie gekauft hatte, und dem Gebäude, das jetzt dort stand, war phänomenal. Im hellen Sonnenschein eines wunderschönen Tages Ende Mai hatte sich der Ort all ihrer Kindheits-Alpträume in das Haus ihrer Träume verwandelt. Es war vielleicht ein wenig kleiner, aber für Ali und sie behaglich genug.
    Trotzdem gab es noch viel Arbeit. Die Arbeiter hatten das typische Schlachtfeld von Schutt und Holzabfällen hinterlassen, doch Frankie freute sich schon darauf, mit ihren eigenen Händen den Platz zu säubern und neu zu gestalten. Wenn einer ihr noch am Tag vor der Wintario-Ziehung gesagt hätte, daß sie jetzt hier sein würde ...
    Sie überraschte sich dabei, wie sie dümmlich grinste. Es war immer noch schwer zu glauben, daß sie wirklich gewonnen hatte. Zweihunderttausend Dollar. Selbst wenn sie die sechsundzwanzigtausend Dollar abzog, die sie für die Überreste des Hauses und das Grundstück hingeblättert hatte, und die gut sechzigtausend, die die Instandsetzung verschlungen hatten, blieben ihr immer noch über hunderttausend Dollar auf der Bank. Jeden Tag rechnete sie damit, daß jemand auftauchte und ihr sagte, es sei alles ein Mißverständnis, und sie müsse alles zurückgeben. Aber das würde nicht geschehen. Sie würde es nicht zulassen. Nicht jetzt.
    Langsam ging sie zum Haus zurück. Als sie die Tür öffnete, stolperte sie fast über ihre Tochter, die mit einem Stapel leerer Kartons die Treppe herunterkam.
    »Paß auf, wohin du gehst, Schätzchen«, mahnte sie.
    Ali schob den Kopf um die Kartons. »Sind die Möbelpacker weg?«
    »Yup. Jetzt sind wir ganz allein - in den Hinterwäldern von Lanark County, wohin sich nur wenige Männer trauen.«
    »Ach, Mom.«
    Frankie lachte und nahm ihr die Kartons ab. Ali besaß ihre Blondlocken, trug sie aber im Gegensatz zu Frankie kurzgeschnitten, der sie bis zur Taille hinabreichten. Außerdem hatte sie Frankies ausgeprägte teutonische Gesichtszüge geerbt, ihre große Nase und hohe Stirn, den breiten Mund - und Augen von einem solch tiefen Blau, daß sich manchmal die Pupillen darin verloren. Man hielt die beiden Frauen oft für Schwestern, was Frankie mit ihren vierunddreißig Jahren ebensosehr freute, wie es ihre vierzehn Jahre alte Tochter verdroß.
    »Bist du in deinem Zimmer fertig?« fragte Frankie.
    »Für heute. Ich dachte, ich helfe dir ein bißchen in der Küche, und dann können wir uns auf Erkundungstour begeben.«
    Frankie schob die Kartons auf die große umbaute Veranda vor der Hintertür der Küche. »Ich sag dir was. Warum läßt du mich nicht hier weitermachen, und du gehst allein auf Entdeckungsreise? Wenn ich fertig bin, essen wir ’ne Kleinigkeit, und danach kannst du mir alle interessanten Ecken zeigen.«
    »Und das macht dir nichts aus?« fragte Ali, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, in die Sonne hinauszustürmen, und dem schlechten Gewissen, ihre Mutter allein weiterarbeiten zu lassen.
    »Nun geh schon.«
    »In Ordnung.« Ali gab ihrer Mutter einen raschen Kuß und sprang zur Hintertür hinaus, ehe sie beide ihre Meinung änderten. Frankie lehnte sich an die Spüle und sah ihrer Tochter nach, wie sie durch das kniehohe Gras des Hofplatzes davonging. Sie fand einen Stock, schlug damit gegen die Blütenstände des Löwenzahns ringsum und wirbelte ganze Wolken von Samen auf, die wie Fallschirme zur Erde sanken. Das Kind schien glücklich zu sein. Frankie konnte nur hoffen, daß es so bleiben würde.
    Als sie zum ersten Mal hier herausgefahren waren, war Alis einziger Kommentar zu dem Anwesen kurz und knapp gewesen: »Wahnsinn!« Trotzdem machte es ihr offensichtlich Spaß, dabei zu sein, wenn Frankie mit dem Architekten die Blaupausen durchging - und dabei war sie doch daran gewöhnt, häufiger umzuziehen. Armes Kind. Sie hatten fast jedes einzelne Jahr in Alis jungem Leben in einem anderen Apartment gelebt. Sicher konnten sie beide ein wenig Stabilität in ihrem Leben

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