Zärtlicher Eroberer
PROLOG
London, Juni 1820
Valerian Inglemoore, Viscount St. Just, hatte ein Geheimnis. Ein schreckliches Geheimnis, das ihn vor Schuld und Selbstverachtung erzittern ließ, als er allein auf Lady Rutherfords Veranda stand und in den von Lampions erhellten Garten starrte, ohne wirklich etwas zu sehen.
Er war so durchdrungen von seinem Geheimnis, dass er keinen Blick übrig hatte für den eleganten Stadtgarten mit seinen Springbrunnen und den sorgfältig angelegten Wegen, die an Beeten und kleinen Ligusterhecken vorbeiführten.
Unter normalen Umständen hätte er den Garten verlockend gefunden, doch in dieser Nacht trug er zu schwer an seinem Geheimnis. Er war einundzwanzig Jahre alt und verliebt in Philippa Stratten, Lord Pendennys’ Tochter, die seine Liebe erwiderte. Auf dieser Veranda waren sie heute verabredet.
Zum letzten Mal.
Das war das Geheimnis.
In dieser Nacht würde er ihr auf Bitte ihres Vaters hin sagen, dass es aus war. In dieser Nacht musste er sie davon überzeugen, dass zwei Monate verstohlener Küsse und heimlicher Treffen für ihn nicht mehr gewesen waren als eine kurzlebige Romanze. Er wusste nicht, wie er das fertigbringen sollte. Er liebte sie so sehr.
Nach dieser Nacht würde er sie nie wieder in die Arme nehmen, nie wieder ihre zärtlichen Finger in seinem Haar spüren. Die letzten beiden Monate waren der Himmel auf Erden gewesen. Bei ihrem Debüt im April hatte er mit ihr getanzt – und seitdem jede weitere Nacht. Sie hatten in Lauben hinter zugezogenen Vorhängen heiße Küsse getauscht und lange Spaziergänge in den Gartenanlagen gemacht. Sie waren sich genug gewesen, weshalb einzig Gründe gefunden werden mussten, um mit ihr allein sein zu können. Er war leidenschaftlicher Botaniker und Reiter, und so hatte es immer plausibel geklungen, wenn sie behaupteten, sie wollten sich eine bestimmte Blumenspezies oder ein neugeborenes Fohlen ansehen.
O ja, sie hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt. Man hätte fast sagen können, es wäre Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber er hatte Philippa schon seit Jahren gekannt. Sie war die Schwester seines besten Freundes Beldon. Zu dritt hatten sie in den Schulferien die Küste Cornwalls erkundet. Seit er das erste Mal in den Ferien von der Schule nach Hause gekommen war, hatte er gewusst, dass sein Herz niemals einer anderen gehören würde.
Hinter ihm, im Ballsaal der Rutherfords, tanzten hundert der Vornehmsten Londons in Seide und Satin durch die Nacht; der Champagner floss in Strömen. Das alles berührte ihn nicht. Ihm brach das Herz.
„Valerian.“ Die vertraute, geliebte Stimme ertönte in der Dunkelheit. Er atmete noch einmal tief durch und betete um die Kraft, Philippa aufzugeben. Es war nur zu ihrem Besten, selbst wenn sie das niemals glauben würde.
Er drehte sich um und weidete sich wie immer an ihrer Schönheit, die er auch in dieser Nacht überwältigend fand. In ihrem blassblauen Ballkleid erschien sie ihm fast überirdisch schön. Der Stoff schien im Mondlicht zu schimmern, wenn sie sich bewegte. Ein sanfter Sommerwind schmiegte das Gewand an ihren Körper und erinnerte Valerian an die reizvollen Rundungen, die sich unter dem zarten Chiffon verbargen.
„Val.“ Sie flüsterte seinen Namen und kam mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. „Ich konnte es kaum erwarten dich wiederzusehen.“ Ein zärtliches Lächeln umspielte ihre Lippen, und in den Tiefen ihrer blauen Augen lag ein Ausdruck, der nur ihm allein galt. Es war ein berauschendes Gefühl, zu wissen, dass die Leidenschaft, die sich hinter dem sanften Lächeln und dem weichen Blick verbarg, einzig für ihn bestimmt war.
Er schwelgte in diesem Gefühl. Nach dieser Nacht würde er nie wieder solch eine Freude empfinden.
Sie schob ihre behandschuhten Finger in seine und erwartete, dass er sie wie gewohnt in seine Arme zog. Er kämpfte verzweifelt gegen die Versuchung an. Er war gekommen, um seine Pflicht ihrer Familie gegenüber zu erfüllen, einer Familie, die ihn seit seiner Jugendzeit immer liebevoll bei sich aufgenommen hatte. Ihr Vater hatte ihn gebeten, Philippa zum Wohl der allgemeinen finanziellen Situation und ihrer eigenen Zukunft aufzugeben. Es war bestenfalls eine schwere Aufgabe. Bei der kleinsten Berührung und beim leisesten Zuneigungsbeweis von Philippa wurde sie herkulisch.
Er umarmte sie nicht. Er konnte es nicht, so sehr er sich auch danach sehnte, ihre Nähe zu spüren. Wenn er das tat, versagte er ihrer Familie den einzigen Gefallen,
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