Grünmantel
verwitterten Scheune, die hinter dem Haus und einigen kleineren Außengebäuden aufragte. Doch anders als bei ihnen wurde das Grundstück zur Straße hin von einer Hecke gesäumt. Apfelbäume umrahmten die Scheune, und vor dem Haus blühten in sauber angelegten Beeten bunte Blumen. Auf drei Seiten war das Anwesen von Wald umgeben - dicht, dunkel und geheimnisvoll für Alis Stadtaugen. Der Duft von frisch gemähtem Gras erfüllte die Luft. Ali ging ein wenig näher, ihr Stock schleifte neben ihren Turnschuhen durch den Staub.
»Was kann ich für dich tun, Kind?«
Die Stimme überraschte sie und verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie drehte sich um und sah auf der anderen Seite der niedrigen Hecke einen Mann stehen. Verblüfft fragte sie sich, wo er so plötzlich hergekommen war. Beim Näherkommen hatte sie ihn nicht bemerkt. Er trug Jeans und hatte ein rotes Halstuch wie ein Schweißband um die Stirn gewunden. Er hatte dichtes schwarzes Haar, und sein muskulöser Körper war braungebrannt, abgesehen von einigen hellen Falten und Linien in der Haut. Er hatte blaßblaue Augen, die sie an die Augen von Paul Newman erinnerten. Gerade erst letzte Woche hatte sie zum x-ten Mal Butch Cassidy und Sundance Kid im Nachtprogramm gesehen. Als der Mann nun auf sie zuging, wobei er das rechte Bein leicht nachzog, stellte sie fest, daß die hellen Male auf seinem Körper Narben waren. Er hatte viele davon.
»Ich fragte, was ich für dich tun kann.«
»Ach ... nichts«, stotterte Ali. »Ich gehe hier ... nur spazieren, verstehen Sie?«
»Dies ist Privatbesitz«, sagte er. »Es ist vielleicht besser, wenn du woanders spazierengehst, okay?«
Ali nickte rasch. »Sicher. Tut mir leid. Ich wollte nur ... meine Mutter und ich sind gerade in das Haus weiter unten an der Straße eingezogen. Ich wollte mir nur die Umgebung ein bißchen ansehen ...«
Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich bei ihren Worten, und er wirkte jetzt nicht mehr so bedrohlich. »Was? In das Haus, an dem sie im Frühjahr gearbeitet haben?«
Ali nickte erneut. Der Mann betrachtete das Mädchen einen langen Augenblick und lächelte dann. »Ich wollte mir gerade etwas Limonade holen, Kind. Magst du auch welche?«
Ali gefiel die Vorstellung nicht, das Haus eines fremden Mannes zu betreten, aber schließlich war er ihr Nachbar, und sie wollte ihm nicht gleich bei der ersten Begegnung einen Korb geben. Da er ein lahmes Bein hatte, konnte sie ihm jederzeit davonlaufen.
»Ja, natürlich«, murmelte sie schließlich.
»Dann komm mit.« Humpelnd ging er voran, und sie eilte hinter ihm her. »Also, wie heißt du, Kind?«
Ali warf ihm einen Blick zu. »Wieso nennen Sie mich dauernd ›Kind‹?«
»Ich weiß nicht.« Sie waren bei den Stufen zum Eingang angelangt. »Setz dich doch. Ich bringe dir die Limonade heraus. Willst du sie mit Eis?«
»Was?«
»Mit Eiswürfeln.«
»Ja, danke.«
»He, wart mal ab, bis du die Limonade probiert hast - auch wenn ich nicht gerade Betty Crocker bin.«
Er verschwand im Haus. Ali hockte sich auf die Stufen. Eine seltsame Bemerkung, dachte sie. Aber es war ein guter Spruch. Sie würde ihn bei ihrer Mom beim nächsten Abendessen anbringen. Sie versuchte sich das leichte Schulterzucken in Erinnerung zu rufen, mit dem der Mann seine Worte untermalt hatte, doch schon öffnete sich die Tür wieder, und er kam zurück.
Er hatte sich drinnen ein weißes Hemd übergezogen, wodurch seine Haut noch dunkler wirkte. Die Eiswürfel klirrten im Glas, das er ihr reichte. Sie wollte sich schon bei ihm bedanken, doch dann fiel ihr wieder ein, was er gesagt hatte, und sie probierte erst einen Schluck. Er grinste, als habe er ihre Gedanken gelesen. Sie mußte unwillkürlich kichern, was sie aber mit einem weiteren Schluck überspielte.
»Danke«, meinte sie dann. »Schmeckt gut.«
Er nahm selbst einen Schluck und stellte sein Glas zwischen ihnen auf die Stufe. »Yeah, ist gar nicht übel. Also, wie heißt du?«
»Alice Treasure - aber alle nennen mich Ali.«
»Dir gefällt Alice nicht?«
»Sie hätten mich ebenso gut Abigail oder sonstwie nennen können, finden Sie nicht?«
Er zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Mir gefällt Alice irgendwie. Ich heiße Tony Garonne.«
»Leben Sie schon lange hier, Mister Garonne?«
»Tony - nenn mich einfach Tony, okay? Und ich nenne dich Ali. Yeah, ich lebe hier schon ’ne Zeitlang. Nicht ständig, aber ich habe das Haus jetzt schon fünfzehn Jahre.«
»Meine Mom ist in dem Haus aufgewachsen, das
Weitere Kostenlose Bücher