Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
sie einer nach dem andern hinter der Tür des Beratungszimmers verschwanden. Erst dann drehte ich mich nach Margherita um.
»Wie lange habe ich gesprochen?«
»Fast zweieinhalb Stunden.«
Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel vor sechs. Mir kam es vor, als hätte ich höchstens vierzig Minuten gesprochen.
Eine Weile blieben wir schweigend stehen. Dann fragte sie mich, warum ich meine Robe nicht auszog. Ich zog sie aus und legte sie auf meine Bank, während sie mich mit dem Gesichtsausdruck von jemandem ansah, der etwas sagen möchte und noch nach den richtigen Worten sucht.
»Ich bin nicht besonders gut im Komplimentemachen. Eigentlich habe ich das nie gerne getan, und ich weiß auch warum. Aber das tut hier nichts zur Sache. Was ich dir sagen wollte, ist... es war phantastisch, dir zuzuhören. Ich hätte Lust, dir einen Kuss zu geben, aber ich glaube, das ist hier nicht der rechte Ort.«
Ich sagte nichts, mir fehlten einfach die Worte; außerdem hatte ich einen Kloß im Hals.
Ein Reporter näherte sich und sagte ein paar lobende Worte. Danach noch einer, und dann auch die junge Frau, die mich während der Pause gefragt hatte, was ich vom Antrag des Staatsanwalts hielt. Ich bedauerte, dass ich sie vorher so unfreundlich behandelt hatte.
Während die Journalisten noch auf mich einredeten, ohne dass ich ihnen zuhörte, zupfte Margherita mich sacht am Jackenärmel.
»Ich muss weg. Viel Glück noch!«, sagte sie, hob den rechten Arm mit der zur Faust geballten Hand in Stirnhöhe und verneigte sich kurz.
Ich sah ihr nach, wie sie hinausging, und fühlte mich verlassen.
17
M ein erster eigener Prozess nach dem Anwaltsexamen war eine Betrugssache gewesen, der Angeklagte ein lustiger, dicker Typ mit schwarzem Schnurrbart und einer Nase mit lauter geplatzten Äderchen. Ich nehme an, er war nicht gerade Abstinenzler.
Der Staatsanwalt hielt ein sehr kurzes Plädoyer und beantragte zwei Jahre Gefängnis. Mein Plädoyer war sehr lang. Der Richter nickte, während ich sprach, und das gab mir Sicherheit. Meine Argumente schienen mir stichhaltig und zwangsläufig überzeugend.
Als ich fertig gesprochen hatte, war ich mir sicher, dass mein Mandant freikommen würde.
Der Richter blieb etwa zwanzig Minuten im Beratungszimmer, und als er wieder erschien, verurteilte er meinen Mandanten exakt zu der vom Staatsanwalt geforderten Strafe. Zwei Jahre Gefängnis, die noch nicht einmal zur Bewährung ausgesetzt wurden, da mein Klient vorbestraft war.
In der darauf folgenden Nacht konnte ich nicht schlafen, und viele Tage lang fragte ich mich immer, was ich nur falsch gemacht hatte. Ich fühlte mich gedemütigt, ich redete mir ein, der Richter hätte aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen etwas gegen mich gehabt, ich verlor das Vertrauen in die Justiz.
Dabei kam mir die einfachste Erklärung überhaupt nicht in den Sinn: Mein Mandant war schlicht und ergreifend schuldig, und der Richter hatte gut daran getan, ihn zu verurteilen. Aber zu dieser brillanten Einsicht gelangte ich erst viel später.
Dieser Vorfall lehrte mich jedoch, meine Prozesse fortan mit dem nötigen Abstand anzugehen. Ohne allzu viel Leidenschaft und vor allem ohne Erwartungen.
Erwartungen und Leidenschaft sind etwas sehr Gefährliches. Sie können einem übel mitspielen, sehr übel sogar. Und das nicht nur bei Prozessen.
Daran dachte ich, während sich der Gerichtssaal leerte. Auch daran, dass ich gute Arbeit geleistet hatte. Dass ich alles getan hatte, was in meiner Möglichkeit stand. An das Urteil durfte ich jetzt nicht denken.
Ich musste fort von hier. Nach Hause oder in mein Büro, oder auch einen Spaziergang machen. Sobald das Gericht zur Urteilsverkündung bereit war, würde mich der Protokollführer per Handy benachrichtigen – er hatte sich, bevor er ging, extra meine Nummer geben lassen.
Das ist bei Prozessen wie diesem üblich, wenn absehbar ist, dass die Richter Stunden, wenn nicht gar Tage lang beraten werden. Sobald das Urteil dann feststeht, rufen sie den Protokollführer herein und teilen ihm mit, dass sie in Kürze das Beratungszimmer verlassen und das Urteil verlesen werden. Der Gerichtsdiener benachrichtigt dann den Staatsanwalt und die Verteidiger, und zur vorgegebenen Zeit finden sich alle zum Schlussakt ein.
Eigentlich hätte ich jetzt gehen müssen.
Stattdessen blieb ich, und nachdem ich mich eine Weile in dem verlassenen Raum umgeschaut hatte, näherte ich mich dem Käfig . Abdou erhob sich von seiner Bank, um mir
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