Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
sammeln.
»Manuela ist seit sechs Monaten verschwunden.«
Ich weiß nicht, warum ich nach dieser Enthüllung die Augen schloss, aber ich musste sie sofort wieder öffnen, weil ich hinter den Lidern gleißende Kreise sah.
»Verschwunden? Inwiefern verschwunden?«
Das war wirklich eine sehr gute Frage, dachte ich eine Sekunde später. Inwiefern verschwunden? Vielleicht meinten sie, sie habe sich bei einem Zaubertrick in Luft aufgelöst. Du bist wirklich in Form heute, Guerrieri.
Der Vater sah mich an. Sein Gesichtsausdruck war undefinierbar; er bewegte ein paar Muskeln, als wolle er sprechen, aber er sagte nichts. Ich hatte den Eindruck, dass er es einfach nicht schaffte. Während ich ihn ansah, nahmen in meinem Kopf die Worte eines alten Lieds von Francesco De Gregori Gestalt an: Conoscete per caso la faccia di una ragazza di Roma, la cui faccia ricorda il crollo di una diga? Kennt ihr zu fällig ein Mädchen aus Rom, dessen Gesicht an einen gebrochenen Damm erinnert? Genau das war das Gesicht von Herrn Ferraro, Möbelhändler und verzweifelter Vater: ein gebrochener Damm.
Die Frau sprach jetzt weiter.
»Manuela ist im September verschwunden. Sie wollte das Wochenende bei Freunden verbringen, die einen Trullo in der Gegend zwischen Cisternino und Ostuni haben. Am Sonntagnachmittag hat eine Freundin sie zum Bahnhof von Ostuni gebracht. Und seit diesem Tag haben wir nichts mehr von ihr gehört.«
Ich nickte, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte gern Solidarität und Nähe vermittelt, aber was sagt man verzweifelten Eltern, deren Tochter verschwunden ist? Das tut mir aber leid, aber macht euch keine Sorgen, so was kommt vor. Bestimmt taucht eure Tochter bald wieder auf, das Leben geht seinen normalen Lauf und das Ganze wird euch vorkommen wie ein Albtraum.
Ein Albtraum? Ich dachte, wenn ein erwachsener Mensch für so lange Zeit verschwindet – und sechs Monate sind eine lange Zeit –, dann ist entweder etwas Schlimmes passiert, oder derjenige hatte vor, sich aus dem Staub zu machen. Sicher, es gibt die Möglichkeit eines Gedächtnisverlusts, aber in diesem Fall irrt derjenige herum und wird früher oder später gefunden. Älteren Leuten passierte so etwas manchmal. Aber Manuela war kein älterer Mensch. Wie auch immer, was hatte ein Anwalt damit zu tun? Ich meine, was hatte ich damit zu tun? Warum waren sie zu mir gekommen? Ich überlegte, wann ich diese Frage stellen konnte, ohne unsensibel zu wirken.
»Die Freundin ist sicherlich von der Polizei vernommen worden?«
»Natürlich. Die Carabinieri haben ermittelt, wir haben Kopien von allen Akten, wir bringen sie dir vorbei«, sagte Fornelli.
Aber wozu? Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her wie immer, wenn ich nicht verstehe, was los ist, und mich unwohl fühle.
»Also, ich erkläre dir alles ganz kurz. Manuela hat kein Auto, sie war mit Freunden zu den Trulli gefahren. Am Sonntagnachmittag sollte sie zurückfahren, aber keiner konnte sie direkt nach Bari mitnehmen, weshalb sie sich zum Bahnhof von Ostuni bringen ließ, wo sie den Zug nehmen wollte.«
»Weiß man, ob sie ihn auch genommen hat?«
»Wir nehmen es an, aber wir wissen es nicht genau. Sicher ist nur, dass sie die Fahrkarte gekauft hat.«
»Warum seid ihr so sicher, dass sie die Fahrkarte gekauft hat?«
»Die Carabinieri haben den Mann vom Fahrkartenschalter vernommen. Sie haben ihm die Fotos gezeigt und er hat Manuela erkannt.«
Ich fand das ungewöhnlich. Fahrkartenverkäufer sehen – wie auch andere Berufsgruppen, die mit vielen Menschen in Berührung kommen – ihren Kunden sehr wenig ins Gesicht. Sie sehen sie eigentlich gar nicht, und wenn, vergessen sie sie sofort wieder. Das ist normal, an ihnen ziehen so viele Gesichter vorbei, dass sie sich nicht an einzelne erinnern können, es sei denn, es gäbe einen besonderen Grund dafür. Fornelli ahnte, was ich dachte, und antwortete mir, ohne dass ich die Frage stellen musste.
»Manuela ist ein sehr schönes Mädchen, ich denke, dass der Fahrkartenverkäufer sich deshalb an sie erinnerte.«
»Und es war nicht möglich festzustellen, ob sie dann tatsächlich auch in den Zug gestiegen ist?«
»Das kann man nicht mit Sicherheit sagen. Die Carabinieri haben die Schaffner aller Züge jenes Nachmittags befragt. Ein einziger glaubte sich zu erinnern, ein Mädchen gesehen zu haben, das aussah wie Manuela, aber er war sich wesentlich weniger sicher als der Mann am Schalter. Sagen wir mal, es ist wahrscheinlich, dass sie in
Weitere Kostenlose Bücher