Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
vorbeibringen lassen.«
Fornelli holte mit einer etwas unbeholfenen Geste einen Umschlag hervor und überreichte ihn mir.
»Danke, Guido. Das ist eine Anzahlung für deine Spesen. Tonino und Rosaria bestehen darauf, dass du sie annimmst. Wir sind sicher, dass du uns weiterhelfen kannst. Danke.«
Aber klar doch, dachte ich. Ich werde dieses Rätsel zwischen einem Glas Whisky und einer schönen Prügelei lösen. Ich fühlte mich wie Nick Belane, der groteske Privatdetektiv von Charles Bukowski, und das war überhaupt nicht lustig.
Nachdem ich sie zur Tür gebracht hatte, ging ich in mein Zimmer zurück, durch die dunkle, verlassene Kanzlei. Einen Moment lang verspürte ich eine Unruhe, die mich an die Ängste meiner Kindheit erinnerte. Ich setzte mich an den Schreibtisch und betrachtete den Umschlag, der dort liegen geblieben war. Dann öffnete ich ihn und zog einen Scheck heraus, der auf einen übertrieben hohen Betrag ausgestellt war. Einen Augenblick lang war meine Eitelkeit dadurch geschmeichelt, aber dann überwog das Unbehagen.
Ich dachte, dass ich ihn zurückgeben musste, und gleich darauf wurde mir klar, dass diese Bezahlung für Ferraro – und vielleicht auch für Fornelli – eine Möglichkeit war, die Angst zu bekämpfen. Sie hatten dadurch die Illusion, dass auf die Bezahlung eine konkrete und nützliche Aktion folgen würde. Wenn ich ihnen den Scheck zurückgab, würde ich ihnen damit zu verstehen geben, dass man nichts mehr tun konnte, und hätte ihnen dadurch auch diesen minimalen, vorübergehenden Trost genommen.
Und das durfte ich nicht. Jedenfalls nicht sofort.
Es gelang mir nicht, mir das Gesicht von Herrn Ferraro Antonio, genannt Tonino, aus dem Sinn zu schlagen. Sein Gesicht, das so offensichtlich verrückt vor Schmerz war, weil er seine Erstgeborene verloren hatte.
Ich ging auf YouTube und suchte den alten Song von De Gregori. Ich legte die Füße auf den Schreibtisch und schloss die Augen, während die ersten Akkorde einer Live-Aufnahme erklangen.
Lui adesso vive ad Atlantide con un cappello pieno di ricordi. Ha la faccia di uno che ha capito.
Er lebt jetzt in Atlantis mit einem Hut voller Erinnerungen. Sein Gesicht ist das von einem, der Bescheid weiß.
Genau.
6
A uf der Straße war die Luft frisch, was vor allem am Mistral lag, der durch die Stadt wehte.
Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen, keine Lust, mich in der Einsamkeit einzuigeln, die sich manchmal in den Zimmern meiner Wohnung allzu breit machte. Ich musste meine schlechte Laune und meine Traurigkeit auslüften, bevor ich ins Bett ging. Ganz nebenbei hatte ich auch das Bedürfnis, etwas Nahrhaftes zu essen und etwas Tröstliches zu trinken. Also beschloss ich, ins Chelsea Hotel zu gehen.
Nicht in das berühmte Brownstone-Gebäude in der 23. Straße in Chelsea, Manhattan, sondern in ein Lokal im Stadtteil San Girolamo in Bari, das ich vor ein paar Wochen entdeckt hatte und das mein liebster Aufenthaltsort für jene Abende geworden war, an denen ich nicht zu Hause sein wollte.
Seit ich meine neue Kanzlei hatte, machte ich nachts gern lange Spaziergänge durch mir unbekannte Gegenden. Wie an jenem Abend ging ich dann gegen zehn los, aß unterwegs irgendwo ein Brötchen, ein Stück Pizza oder ein paar Sushiröllchen und ging dann mit schnellen Schritten los wie einer, der ein festes Ziel hat und keine Zeit verlieren will. In Wirklichkeit hatte ich überhaupt kein Ziel, auch wenn ich höchstwahrscheinlich auf der Suche nach etwas war.
Diese Spaziergänge ersetzten das Boxtraining, wenn ich dazu keine Lust hatte, aber in erster Linie dienten sie dazu, die Stadt und meine Einsamkeit zu erkunden. Manchmal dachte ich daran, wie spärlich meine sozialen Beziehungen geworden waren, seit Margherita weggegangen war; umso mehr, seit sie mir mitgeteilt hatte, dass sie nicht mehr zurückkommen würde.
Ich sehnte mich nach meinem früheren Leben – vielmehr nach meine n früheren Leben. Die mehr oder weniger normal gewesen waren. Nach der Zeit, in der ich mit Sara zusammen gewesen war, oder der, in der es Margherita gegeben hatte. Aber es war ein sanftes Sehnen, ohne zu leiden. Oder zumindest mit einem erträglichen Maß an Leid.
Manchmal dachte ich daran, wie schön es wäre, jemandem zu begegnen, der mir so gut gefiel, wie die beiden mir gefallen hatten, aber ich war mir klar darüber, dass das unrealistisch war. Dieser Gedanke machte mich ein wenig traurig, aber auch das Ausmaß dieser Traurigkeit war meist erträglich.
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