Gun Machine
Schmetterling, der von einer geschäftstüchtigen Spinne gefressen worden war, die von einem Kommerzvogel gefressen worden war, der von einer großen globalisierten Katze gefressen worden war. Tallow schrubbte weiter vor sich hin, fest entschlossen, zumindest dieses winzige Rätsel zu lösen und so viel übel zugerichtetes, blassblaues Papier ans Licht zu holen wie irgend möglich. Die Zigarette warf er in den nächsten Blecheimer. Sie lenkte ihn nur ab. Er wollte der Sache auf den Grund gehen. Das war ja fast schon Archäologie. Er vertiefte sich in seine kleinen Taschentuchwischer, bis er die Buchstaben über dem Mittelloch entziffern konnte.
Tallow spürte, dass er richtiggehend grinste. Es war » Heart of Glass « von Blondie, ein Song, den er seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Aber er wusste noch, wie er ihn als Kind zum ersten Mal gehört hatte– wie er gekichert hatte, weil Debbie Harry » pain in the ass « sang.
Und er erinnerte sich, dass es im Text darum ging, sich in Illusionen zu verirren. Darum, dass man sich nirgendwo verstecken konnte.
Tallow war sich einigermaßen sicher, dass er das Album nicht auf CD hatte, und nahm sich vor, das MP 3 zu kaufen, sobald er zu Hause war, um der geopferten Platte Tribut zu zollen. Er stellte den Aschenbecher zurück auf den Tisch. Natürlich würde er das verdammte Ding trotz allem benutzen, und natürlich war die Aufnahme eh nicht mehr zu retten, aber er hatte seine Skrupel. So was konnte man doch keiner Schallplatte antun. Andererseits, dachte er, gab es in der näheren Umgebung der Platte vermutlich niemanden mehr, der ein passendes Abspielgerät besessen hätte. Tallow kannte nur einen Menschen, der noch einen Plattenspieler hatte und kein DJ war: sich selbst.
Was aber nichts heißen wollte. Er kannte generell wenig Leute.
Sein Essen kam. Mit einem lächelnden Blick auf das Etikett, das er ausgegraben hatte, nahm er sich den Burger vor. Schmeckte etwas besser als erwartet.
Nach den ersten paar Bissen griff er in die Laptoptasche, die an seinem Stuhl lehnte, knipste den WLAN -Empfänger an, was er inzwischen ohne Hinschauen hinbekam, zog das Tablet heraus und tippte Tabak und Gebet in die Suchmaschine. Während er den Burger vertilgte, ließ er sich von einer Handvoll grausam designter Websites, die allesamt in Farbschemata gehalten waren, auf die eine Nacht Gefängnis stehen sollte, auf die Schnelle über den Tabakgebrauch amerikanischer Ureinwohner informieren. Der verrückte Penner hatte nicht nur Quatsch geredet. Auf zwei Seiten blinkten große Werbebanner für Websites und Hotlines, die einem beim Aufhören helfen wollten, da beiläufiger und übermäßiger Tabakgenuss un-ureinwohnerisch sei.
Tallow spülte sich die letzten Burgerkrümel mit einem Schluck Ale aus den Zähnen und zündete sich nebenbei die nächste Zigarette an. Schließlich war er kein Ureinwohner. Irgendwann während der Mahlzeit war sein Körper zu dem Schluss gekommen, dass er tatsächlich hungrig war, und nun fühlte Tallow sich wie ein gesättigtes, schläfriges Säugetier.
Er ließ den Kopf in den Nacken sinken und pustete den Rauch auf den splitterförmigen Mond im Nachthimmel und auf zwei Tauben, die sich von der leichten Brise treiben ließen. Er entspannte sich.
Und auf einmal dachte er: Scheiße, ich muss gleich heulen. Er war sich sicher. Ein Gefühl, als müsste er jeden Moment kotzen.
Tallow richtete sich auf. Seine Augen hatten sich geweitet, seine Atmung ging röchelnd und stockte, sein Mund verzerrte sich. Er spürte keinen Boden mehr unter den Füßen, während er zusah, wie die Zigarette in seiner rechten Hand zitterte. Seine Finger gehorchten nicht, sein Kopf war zu weit entfernt. Er ballte die linke Faust. Nach einer halben Minute brannten grellweiße, halbmondförmige Schmerzpunkte auf seiner Handfläche, wo sich die Nägel ins Fleisch gruben. Mit letzter Kraft sammelte er den ganzen Schmerz und presste ihn in die schreckliche klaffende Leere in seiner Brust.
Erst als die Zigarette fast heruntergebrannt war, hatte er sich wieder gefangen. Je weiter er den Schmerz zurückdrängte, desto wütender wurde er. Er hatte nur eine Minute lockergelassen, um sich ein bisschen zu entspannen, ehe er über seinen bisherigen Tag nachdachte. Und jetzt war er wütend, wütend auf alles und nichts, weil sich kein Sündenbock anbot, der schuld gewesen wäre, dass er nicht mal eine Minute durchatmen konnte, ohne durchzudrehen. Da hatte er einmal versucht, wie ein normaler
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